Deutschland
im Spätherbst
Von
Tilman Krause
Als
vor nunmehr zehn Jahren die Losung ausgegeben wurde, die deutsche
Literatur müsse wieder lesbarer werden, wurde Ulrich Woelk
sogleich als leuchtendes Beispiel für eine erneuerte deutsche
Erzählkunst ausgerufen. Der Kölner des Jahrgangs 1960,
dessen Romandebüt "Freigang" 1990 mit dem
Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet worden war, hat auch mit seinen
Folgebüchern die Befürworter einer intelligent
geschriebenen realistischen Prosa nicht enttäuscht: Vor allem
sein 2001 erschienener Roman "Liebespaare" überzeugte
durch einen starken Plot, geschickte Dramaturgie, stilistische
Sorgfalt und soziale Genauigkeit.
In
Wie
Ulrich Woelk in "Liebespaare" die Ermüdungserscheinungen
in der Ehe zweier saturierter Paare aus dem Milieu der "young
urban professionals" beschrieb, wie er ihre Beschäftigungen
und Problembewältigungsstrategien darstellte, das hatte,
ungeachtet allen ambitionierten sprachlichen Feinschliffs, auch
etwas von Sozialreportage und besaß gerade darum für
Leser zwischen 30 und 40 beträchtlichen Wiedererkennungswert.
Entsprechend groß war der Erfolg bei Publikum und Kritik.
"Liebespaare" galt vielen Beobachtern der literarischen
Szene als DER deutsche Gegenwartsroman des neuen Jahrhundertbeginns.
In
Vielleicht
war es dieser Übertritt in die Sphäre des Repräsentativen,
die dem Autor Mut gemacht hat, mit seinem neuen Roman abermals, wenn
nicht sogar noch hochgesteckter als in "Liebespaare", ein
für die deutsche Selbstverständigung zentrales Thema
anzupacken. Dieses Thema lautet, was der erratische Titel "Die
letzte Vorstellung" zunächst einmal gar nicht vermuten
lässt: Deutschland-Ost und Deutschland-West, genauer gesagt,
der unterschiedliche Umgang von Ost- und Westdeutschen mit ihrer
jeweiligen Vergangenheit.
In
Woelk
bedient sich in der "letzten Vorstellung", wiederum sehr
publikumswirksam, der Form des Kriminalromans, mit dem kleinen, aber
bezeichnenden Unterschied, dass die beiden Fahnder beim Mord an
einem ehemaligen RAF-Mitglied, welcher den Ausgangspunkt der
Geschichte bildet, keine privaten Detektive sind. Der vierzigjährige
Westdeutsche Anton Glauberg und die zehn Jahre jüngere
Ostdeutsche Paula Reinhardt ermitteln vielmehr im Dienst des
Staates. Paula Reinhardt ist Angestellte beim BKA, Glauberg
Polizist. Solchermaßen ihre Repräsentativität
betonend, kann Woelk seine Kriminalgeschichte in den
Erwartungshaltungen zweier Deutscher spiegeln, die er mit typischen
Biographien versieht, typisch für die jeweilige Systemprägung,
die sie beide erfahren haben.
In
Glauberg
ist der wortkarge, resignierte, nicht besonders ehrgeizige
Westdeutsche aus der Generation der 78er, wie er auch schon in den
vorangegangenen Romanen von Ulrich Woelk hätte vorkommen
können. Seine Ehe ist kaputt, mit dem Söhnchen kann er
nicht recht umgehen. Als junger Mann bereits war er jener typische
"Zaungast", als den die 78er-Generation sich gern
begreift: Er wohnte zwar als Student noch in einer Berliner WG, aber
der Weltverbesserungselan seiner älteren Mitbewohner lag ihm
fern. Mit seiner matt-temperierten Mentalität stößt
er nun bei Paula Reinhardt auf das glatte Gegenteil: Sie ist als
DDR-Geschädigte von brennendem Eifer und beweist einen
unbeugsamen Willen, alles gnadenlos anzuprangern, was dem real
existierenden Sozialismus nützlich war.
In
Der
Mord an dem einstigen politischen Extremisten gibt Woelk nun
Gelegenheit, in einer Vielzahl von Verhören mit Verdächtigen
ausgiebig Lebensläufe vorzuführen, die aus westlicher oder
auch östlicher Sicht ihre politische Weltsicht offenbaren. Wir
hören den erfolgreichen, hedonistisch gewordenen Alt-68er und
den gescheiterten Kapitalismus-Gegner, der sich mit Spitzel-Diensten
für das BKA über Wasser hält. Wir erleben die
altlinke verbitterte DDR-Sympathisantin aus dem Westen und den
cleveren Ex-Stasi-Führungsoffizier, der auch von der Wende
wieder zu profitieren wusste. Auch einen Journalisten gibt es, der
bei seinen selbstgefälligen kulturkritischen Globalanalysen
keine Sekunde zögert, die Welt aus einem Punkte zu erklären.
Schließlich lernen wir die Psyche des Mörders kennen, die
eine, um wenigstens so viel zu verraten, erschreckende Rachsucht
offenbart, gepaart mit der Hybris dessen, der zu richten wagt, weil
er sich im Besitz der Wahrheit wähnt -- eine Unerbittlichkeit
tritt da zu Tage, verglichen mit der die indifferente, politische
Unfestgelegtheit Glaubergs geradezu als wohltätige
Zivilisiertheit wirkt.
In
Darauf
scheint denn auch der parabelhafte Zug dieses spannend
geschriebenen, einfühlsam beobachteten Zeitromans
hinauszulaufen: auf ein Plädoyer für politische
Gelassenheit und Zurückhaltung, was eine vernünftige, aber
auch ein wenig brave Botschaft sein mag, die jedoch auch als Zeichen
von Reife zu begreifen ist.
In
Reife
ist überhaupt der vordringliche Eindruck bei der Lektüre
dieses Buches. Selten begegnet man in der deutschen Literatur der
Gegenwart einem Autor, der sich seiner sprachlichen Mittel so sicher
sein darf wie Ulrich Woelk. Ob er die melancholische, an sich selbst
verlorene Landschaft im deutschen Norden, nahe der dänischen
Grenze, heraufbeschwört oder die herbe, fast schon verloren
geglaubte Liebe zwischen Glauberg und seiner Frau, die sich dann
doch in einer Winternacht noch einmal entfalten darf; ob Woelk aus
unterschiedlichsten Biografien gemächlichen Schrittes den
traumatischen Glutkern herausschält oder Schicht um Schicht die
einzelnen Bestandteile des raffiniert inszenierten Mordes auf
lebensgeschichtliche Einzelheiten des Mörders bezieht: Immer
leitet den Autor ein Gespür für das atmosphärisch und
kompositorisch Stimmige, das in seiner unaufdringlichen Eleganz eher
an angelsächsische Erzählkunst erinnert.
In
"Die
letzte Vorstellung" wirkt wie ein Stück englischen Rasens:
dichtgewebt und kurzgeschoren, bietet sie in ihrem Gleichmaß
den idealen Unterbau für allerhand kleine metallene Tore; durch
die kann man kreuz und quer die Bälle schlagen. Woelks Bälle:
RAF und Stasi, politischer Radikalismus aus West und Ost, von
gestern und von heute, gelangen zielsicher durchs Tor, weil ihnen
der Boden gut bereitet ist -- durch eine intellektuelle und
emotionale Durchdringung unserer Gegenwart, die so sehr aufs Ganze
geht, dass sie, vor allem zu Beginn des Romans und am Schluss, sogar
die religiöse Wirklichkeit unserer Tage zum Thema macht.