Verlorene
Träume im Deutschen Herbst
Von
Kerstin Schneider
Ein
Pfarrer joggt und findet in einem Haus am Deich die Leiches eines
Mannes. Hans Jacobi, ein ehemaliger RAF-Terrorist wurde regelrecht
hingerichtet. War der Mord ein Racheakt von RAF-Aktivisten? Hatte
Jacobi Informationen, die ihn das Leben gekostet haben? Ulrich Woelk
neues Buch zielt mitten hinein in die Nachwirkungen des "Deutschen
Herbstes".
Schicht
für Schicht muss der Kriminalbeamte Anton Glauberg abtragen, um
auf die Spur von Jacobis Mörder zu gelangen. In drei
Vergangenheiten stochert er herum: In den siebziger Jahren schloss
sich der ermordete Hans Jacobi alias Wolgast der RAF an, setzte sich
dann in die DDR ob und lebte nach der Wende unerkannt am Deich, weil
er dem Bundeskriminalamt Informationen geliefert und so ohne Strafe
davon gekommen war. Eine wichtige Rolle spielt die Musik. Der Mörder
hat den früheren Terroristen zu den Klängen von Mozarts
"Zauberflöte" umgebracht. Diese Oper ist auch der
Schlüssel zur Aufklärung eines anderen politischen Mordes,
der in den siebziger Jahren in Berlin geschah.
Mit
Glauberg hat der Autor einen Kommissar erfunden, der es mit Henning
Mankells Kurt Wallander aufnehmen kann. Zumindest, was die
lakonische Art und das analytische Arbeiten angeht. Anton Glauberg,
40 Jahre alt, lebt von Frau und Kind getrennt. Er ist schweigsam,
ein Mann aus dem Norden, der keine Gefühle zeigt und keinen
Schlaf findet. Das Unfertige seines Lebensentwurfs spiegelt sich in
seiner kaum eingerichteten Wohnung. Nach der Trennung von seiner
Frau lebt der Polizist zwischen Kartons. Er hat nur die Bücher
aus dem Regal von A bis C mitgenommen und muss dann eben Camus und
Chandler lesen. Von Anfang an ist klar, dass der Ermittler
persönlich in den Mord an Jacobi verstrickt ist, viel mehr, als
er zugibt.
Meisterhaft gibt uns der Autor Stück für Stück
Einblick in Glaubergs Handlungs- und Denkweise. Doch sobald man
glaubt, alles begriffen zu haben, werden die Karten neu gemischt.
Denn Glauberg hat eine Gegenspielerin: die unnahbare und kühle
BKA-Ermittlerin Paula Reinhardt, zehn Jahre jünger und im Osten
aufgewachsen. Zehn Jahre nach der Einheit wird in den Figuren
Glauberg und Reinhardt deutlich, wie sehr die Erfahrungen in Ost und
West nach wie vor unser Leben prägen. Die Ermittlungen, die
nach Berlin führen, werden daher auch zu einer Reise in
Glaubergs und Reinhardts eigene Vergangenheit. Verlorene Träume,
verratene Überzeugungen sind es, die alle Figuren des Romans
kennzeichnen.
Da ist der Typ des opportunistischen freien
Journalisten, des habgierigen, alt-achtundsechziger Fotografen und
des zynischen BKA-Informanten. Glauberg begreift schnell, dass
jenseits aller politischen Ideologien das Persönliche, das
Emotionale die Handlungen bestimmt. 25 Jahre nach dem "Deutschen
Herbst" 1977, der mit der Entführung des
Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer seinen traurigen
Höhepunkt fand, sind viele Filme und Bücher entstanden,
die sich mit der RAF auseinandersetzen. Ulrich Woelk geht es nicht
um die Frage, warum Andreas Baader, Gudrun Ensslin oder Ulrike
Meinhof so radikal gehandelt haben, sondern darum, wie diese
Ereignisse noch heute Denkweisen beeinflussen. Dass die
konstruierten Gespräche, in der Woelk die politischen
Positionen seiner Protagonisten deutlich macht, nicht langatmig
wirken, liegt an den überraschenden Wendungen des Buches.
"Wie
soll man wissen, was man tun soll, wenn man alles tun kann",
hatte Woelk noch in seinem, vor einem Jahr erschienenen Roman
"Liebespaare" gefragt. Dass unser Leben von mehr
politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen bestimmt ist, als
wir selbst zugeben wollen und wissen, stellt der Autor in seinem
neuen Buch eindringlich dar. "Ich bin nicht ein Mensch, sondern
ich bin hunderttausend Menschen. Ich bin die ganze schizophrene
Geschichte der Menschheit", lässt Woelk den linken
BKA-Informanten sagen. Das ist sicher kein neuer Gedanke, aber
einer, der nach den Ereignissen des 11. Septembers neue Aktualität
gewinnt.
Ulrich
Woelk ist mit seinem neuen Kriminalroman ein spannender Blick auf
die Koordinaten gelungen, in denen sich das Leben nach der deutschen
Einheit bewegt. "Die letzte Vorstellung" spannt einen
Bogen der bundesrepublikanischen wie der DDR-Geschichte über
den Fall der Mauer bis hin zum Terroranschlag des 11. September.