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Blick zurück in Zorn und Verwirrung
Von Joachim Scholl
Der 2. Juni 1967 ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Schlüsseldatum. An jenem Tag weilte Schah Reza Pahlewi mit Gattin Farah Diba auf Staatsbesuch in Berlin. Vor dem Schöneberger Rathaus prügelten bezahlte Schläger, so genannte Jubel-Perser, mit Holzlatten auf demonstrierende Studenten ein. Am Abend zeigte die Berliner Polizei auf Geheiss des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Albertz vor der Deutschen Oper, dass auch sie den Knüppel zu handhaben wusste: Es gab Hunderte von Verletzten, und der Student Benno Ohnesorg wurde von einem Polizisten erschossen.
In dieser Nacht verhärteten sich endgültig die Fronten zwischen der Ausserparlamentarischen Opposition und der Staatsgewalt, wurde der Keim zur terroristischen Bewegung 2. Juni und der späteren Roten-Armee-Fraktion gelegt. Das persische Herrscherpaar lauschte währenddessen den Klängen Mozarts. Gegeben wurde «Die Zauberflöte».
Mit diesem musikalischen Motiv beginnt Ulrich Woelks Roman. In einem einsam gelegenen Haus in Norddeutschland wird eine männliche Leiche entdeckt. Gefesselt sitzt der Tote auf einem Stuhl, man hat ihn regelrecht hingerichtet, im CD-Spieler läuft die Oper. Es ist der passend ausgesuchte, zynische Soundtrack zum Lebensweg des Opfers: Der Mann war ein ehemaliger RAF-Aküvist, ein Aussteiger, der wie viele in den 80er-Jahren Zuflucht in der DDR gefunden hatte und nach deren Zusammenbruch erneut fliehen musste. Alles deutet auf einen Racheakt alter Genossen hin. Dem ermittelnden Kommissar Anton Glauberg verordnet man eine Kollegin, die aus der DDR stammende BKA-Beamtin Paula Reinhardt. Zusammen machen, sie sich auf nach Berlin, wo der Ermordete früher gelebt hatte. Es wird eine schmerzhafte Reise in die eigenen Biografien, denn beide verbindet mehr mit dem toten Terroristen, als sie zuzugeben bereit sind.
So viel nur darf man von der Handlung verraten, denn Ulrich Woelk hat einen klassischen Kriminalroman geschrieben. Dessen glänzend adaptierte Dramaturgie aus schnellen, präzisen Dialogen, spannenden Wendungen und einer verblüffenden Pointe verfeinert er durch zahlreiche psychologische Brüche seiner Protagonisten. Als geistiger Bruder von Henning Mankells Kurt Wallander kämpft Woelks Kommissar mit den Widersprüchen seines Berufs, die nicht nur längst sein inneres Gleichgewicht, sondern auch seine Ehe ausgehebelt haben. Kollegin Reinhardts verbissener Ehrgeiz verweist auf ebenso schwere Beschädigungen, ihr Blick zurück ist vom Zorn auf die Verhältnisse geprägt, Glauberg schaut dagegen mutlos melancholisch in die Vergangenheit, wo alles Übel seine Ursache hat. Dabei vermischen sich die persönlichen Erlebnisse untrennbar mit den Ereignissen und Fakten der Zeitgeschichte, ganz im Einklang mit der Doktrin jener Epoche, nach der alles Private auch politisch gewesen sein soll und wohl auch gar nicht anders konnte.
Sorgfältig wird das komplizierte Kapitel vom «deutschen Herbst» noch einmal aufgeblättert, die intellektuell und emotional aufgeheizte Stimmung rekonstruiert, in der die treuherzigen Ideale gesellschaftspolitischer Utopie angesichts des mörderischen RAF-Terrors kaum mehr zu verteidigen waren. Vor allem die ostdeutsche Perspektive der Kommissarin Reinhardt fügt diesem historischen Prozess böse Facetten zu; je tiefer die kriminalistische Recherche dringt, desto länger wird die Liste der Angeklagten, auch Glaubergs Berliner Sponti-Jugendjahre erscheinen in einem gänzlich anderen Licht.
Der inzwischen 42-jährige Ulrich Woelk wurde seit seinem gefeierten Debüt «Freigang» von 1990 immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, seine Literatur allzu sehr nach den Massstäben seines einstigen Berufes als Astrophysiker zu gestalten, also Stoffe und Figuren wie in einem Labor wissenschaftlich experimentell zu organisieren. Der im vergangenen Jahr erschienene Roman «Liebespaare», eine bestechende Bestandsaufnahme aktuellen Zeitgeists, wies diese Kritik furios zurück. Woelk zeigte sich als souveräner Chronist erotischer Wirrnis, das Publikum war hingerissen.
Ein ähnlicher Erfolg ist auch dem neuen Buch zu wünschen, denn mit noch weit ausgereifterer epischer Finesse entfaltet der Autor sein kluges Szenario, das in der brillanten Individualisierung der Historie deren kollektive Stimmungen und Traumata sichtbar macht. Am Ende erklingt noch einmal das Leitmotiv, Mozarts Oper: «Sie ist ein Stück Psychologie und nicht ein Stück Moral.» Das lässt sich mit Fug auch für diesen deutschen Gegenwartsroman behaupten.