Textauszug:
DIE LETZTE VORSTELLUNG - Beginn des Romans
Hier
im Norden nahe der dänischen Grenze lag der Herbst matt und
geräuschlos auf den Weiden. Die feuchten Marschwiesen, die im
Sommer zart grün waren, erstreckten sich grau und eben wie Zinn
bis zum Horizont, und Himmel und Erde verschwammen miteinander zu
einer einförmigen Landschaftsfläche, die beim Betrachten
manchmal den Eindruck erweckte, ganz nah zu sein und im nächsten
Moment wieder sonderbar fern. Die einstigen Höfe, die im
Abstand von hundert oder vielleicht zweihundert Metern entlang der
schmalen Deiche aufeinander folgten, schienen den feinen hellgrauen
Nebel nur zu dunkelgrauen Knoten zu verdichten, im Herbstmorgen
ankernde Schatten, Bojen der Zivilisation hier draußen, wo nur
noch die wohnten, die in dieser kargen Landschaft aufgewachsen
waren, oder ein paar Zugereiste, die eine gewisse Abgeschiedenheit
suchten.
Wie
jeden Morgen lief Arnold Gnaatz, der Pfarrer von Harde, einer
kleinen Gemeinde im Binnenland, über die weitgeschwungenen
Deiche. Sein Körper war durch den Lauf schwer geworden, und der
Schweiß hatte seine Kleidung feucht werden lassen. Er vernahm
seinen Atem, als wäre es nicht sein eigener, sondern der eines
anderen, der ihm auf Schritt und Tritt folgte. Das Haus, auf das er
zulief, war ein niedriger reetgedeckter Backsteinbau mit moosgrün
gestrichenen Fensterrahmen und einem Spitzgiebel über dem
Eingang, wie man es hier in der Gegend häufig findet. Auf der
Fußmatte vor der Haustür hatte sich ein kleiner Stapel
aus Tageszeitungen angesammelt, und das Zeitungspapier war durch die
Herbstluft feucht und grau geworden. Das Politikerlächeln
obenauf wirkte verquollen und maskenhaft, als habe sich die obere
Schicht der Züge über Nacht von dem Gesicht des Mannes
gelöst, so dass der verzerrte Blick jetzt beinahe etwas
Dämonisches bekam.
Der
Pfarrer verlangsamte seine Schritte, ohne dass er hätte sagen
können, warum. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich vor
den Häusern hier Zeitungen ansammelten, wenn die Bewohner
verreist waren. Sein Blick fiel auf die neben der Tür in
Augenhöhe angebrachte Hausnummer, eine leicht bemooste Sieben,
und es ging ihm durch den Kopf, dass die Sieben eine biblische Zahl
war. Er dachte an die sieben Tage der Schöpfung oder das Buch
mit den sieben Siegeln. Für jede der kleineren Zahlen ließen
sich Bedeutungen finden, durch die ein hinter den Dingen verborgener
Plan sichtbar zu werden schien, und auf einmal drängte sich ihm
eine von diesen Bedeutungen mit seltsamer Intensität auf: die
der sieben Todsünden. Die Assoziation beunruhigte ihn, und er
bemühte sich, eine andere in den Vordergrund seiner Gedanken zu
rücken, aber es gelang ihm nicht. Der Nebel, so schien es ihm,
war noch dichter geworden, und er fragte sich, was er jetzt tun
sollte.
Er
lief eine Zeit lang auf der Stelle, und als sich nach einer Weile
das Rauschen des Blutes in seinen Ohren beruhigte, glaubte er aus
dem Innern des alten Gebäudes, aus dem Dunkel hinter den alten
Fenstern gedämpfte Musik zu vernehmen. Das erschien ihm um so
ungewöhnlicher, als die vor der Tür liegenden Zeitungen
darauf schließen ließen, dass niemand zu Hause war. Das
Bewegungsecho des Dauerlaufs in seinen Beinen verebbte jetzt ganz.
Als Pfarrer kannte er die meisten Anwohner des Deiches, aber die Tür
des Hauses mit der Nummer sieben, vor dem er jetzt stand, hatte sich
seinen seelsorgerischen Diensten noch nie geöffnet. Wer auch
immer hier wohnte, lebte ausgesprochen zurückgezogen. Eine
Weile stand der Pfarrer lauschend da, verwirrt von der Musik, die,
soweit sie sein Ohr erreichte, geprägt war von weiblichem
Gesang in hohen, heftigen weltlichen Stimmlagen, Operngesang
offenbar, der ihm bei seiner Vorliebe für die Choräle
Buxtehudes oder die Motetten von Heinrich Schütz stets
übertrieben vorkam, wie ein Suchen nach etwas, das ohne den
Glauben nicht zu finden war.
Er
wartete noch einen Moment ab, dann betätigte er die Klingel,
und augenblicklich wurde die geisterhafte Opernmusik von einem
Dingdong übertönt, dessen Gewöhnlichkeit vor dem
Hintergrund der hysterischen Sopranklänge ihm einen kurzen
Schrecken einjagte. Nach einer Weile läutete er noch einmal und
trat dann, als wieder nichts geschah, einen Schritt zur Seite, um
durch das Fenster neben dem Eingang zu sehen. Dahinter befand sich
eine karge, mit gesprungenen Tonkacheln geflieste Diele, an deren
Ende einige Mäntel hingen, die in dem schwachen Licht an ein
paar dicht beieinander stehende Personen denken ließen, die
herausstierten so wie der Pfarrer hinein.
Nach
einem kurzen Zögern entschied er sich, um das Gebäude
herumzugehen. Das feuchte Laub auf dem Boden dämpfte das
Geräusch seiner Schritte, und als er auf der Rückseite des
Hauses ankam, entdeckte er zu seiner Überraschung eine Tür,
die nur angelehnt war und sich nach innen öffnen ließ,
bis sie gegen ein im Weg liegendes Paar Schuhe stieß. Sie
führte in einen kleinen quadratischen Flur, und von dort
erreichte man durch eine zweite Tür ein Zimmer mit
Bücherregalen, die bis unter die Decke reichten. Die Musik war
jetzt deutlich und nah. Vielleicht hätte ein weniger geübtes
Ohr den Wortlaut des Gesungenen nicht verstanden, aber dem Pfarrer
entging der Text nicht, zumal er längst erkannt hatte, welche
Passage dort zu hören war, denn zu berühmt war diese Arie,
die Zeile, in der es hieß: "Der Hölle Rache kocht in
meinem Herzen."
Der
Pfarrer, dem bewusst war, daß er sich einem Ort näherte,
an dem zu sein ihm nicht zustand, ging auf die Tür im
rückwärtigen Teil des Zimmers zu und öffnete sie. Der
Raum dahinter war auf seiner linken Seite von einer Fensterfront
begrenzt, durch die das Licht noch farbloser ins Zimmer fiel, als es
draußen schon war. Dann wurde ein Stuhl sichtbar, auf dem ein
Mann saß, dessen Kopf zur Seite gesunken war, als sei er im
Sitzen eingeschlafen. Seine Hand- und Fußgelenke waren mit
breitem schwarzen Klebeband an den Armlehnen und Beinen des Stuhls
festgebunden. Es war ein einfacher Holzstuhl. Die Stimme der
Sopranistin hüpfte durch eine Koloratur aus aneinander
gereihten Ha-ha-Lauten, die wie Gelächter klangen. An der
linken Schläfe des Mannes klebte eine trockene, matt verklumpte
Masse. Seine Hautfarbe glich dem leeren Grau von angeschwemmtem
Holz.
Ein
stehender süßlicher Geruch füllte das Zimmer und
kroch dem Pfarrer in die Nase. Er vermochte seinen Blick nicht von
dem Toten zu wenden, den er auf etwa fünfzig schätzte. Der
Mann war bei weitem nicht der erste Leichnam, den er zu Gesicht
bekam, vielmehr besaß er eine gewisse Übung darin, in den
erloschenen Mienen von Verstorbenen zu lesen, ob sie in Frieden
gegangen waren oder voller Protest und Verzweiflung. Aber in den
starren Zügen des Ermordeten, vor dem er nun stand, vermochte
er keine klare Regung zu erkennen. Allenfalls ließ sich darin
etwas finden wie Müdigkeit, ein schwer zu deutendes
Einverständnis mit der Tatsache, dass es nun endlich vorbei
sein sollte. Die Arie der Königin der Nacht verklang.
Gnaatz
wandte sich ab, und allmählich gewann er die Fassung zurück.
Irgendetwas musste nun geschehen - in seinem Glauben wurzelte das
Gebot, dass es weiterzugehen hatte, was auch immer geschah, im
Vertrauen auf Gott. Im Nebenraum hatte auf dem Schreibtisch ein
Telefon gestanden, und er wollte schon dorthin umkehren, als die
Stille, die den Ermordeten umgab, ganz unerwartet wieder
durchbrochen wurde von dem gewaltigen, jedoch vollkommen
deplatzierten Heraufziehen eines finster rollenden Donners. Die
Fensterscheiben vibrierten für einen Moment in dem lauter
werdenden, brodelnden Geräusch, und als es seinen drohenden
Höhepunkt erreicht hatte, setzte das Orchester ein und die
Königin der Nacht erhob aufs Neue ihre Klage.