Das
Rätsel des Opfers
Von
Meike Fessmann
Verwirrung
stiften, falsche Fährten legen, vernebeln: die Taktik der
Geheimdienste gilt auch für kriminalistische Plots. Es ist also
nur folgerichtig, dass Ulrich Woelk die kleine Poetologie seines
eloquenten neuen Romans einem ehemaligen Führungsoffizier der
Staatssicherheit in den Mund legt: Die Ablenkung von
offensichtlichen Zusammenhängen, meint dieser, sei eines der
wichtigsten "Instrumente der Subversion".
Den
subversiven Charakter des Woelkschen Unternehmens darf man zwar
bezweifeln. Aber wer käme heute noch auf die Idee, von
Literatur den gesellschaftlichen Umsturz zu erwarten? Der 42-jährige
Berliner Autor betreibt eher eine Art Bestandsaufnahme: Wie sieht
Deutschland aus, zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer?
Die
fiktive Figur des RAF-Aussteigers Hans Jacobi, oder genauer: die
Suche nach dessen Mörder, bildet den Aufhänger dieser
deutsch-deutschen Mentalitätsrecherche. "Die letzte
Vorstellung" (Hoffmann und Campe Verlag, 304 S., 19,90 )
ist erkennbar konstruiert, "am Reißbrett" würde
sagen, wer dies dem Autor vorwerfen wollte. Aber das sollte man
nicht. Sicher ist die Konstruiertheit gelegentlich allzu deutlich,
etwa wenn die Figuren, kaum werden sie angepiekt, elaborierte
Statements abliefern, als wollten sie einen Rhetorik-Wettbewerb
gewinnen. Doch die Anlage des Romans als Kriminalstory macht das
plausibel: Wer Kripo und BKA von seiner Unschuld überzeugen
will, legt sich schon ein bisschen ins Zeug.
Die
Wahl der Erzählhaltung prägt das ganze Buch. Ulrich Woelk
lässt die Puppen tanzen, mit Inbrunst tritt er in die Pedale.
Welch eine Ouvertüre: dichte Nebelschwaden über dem
platten holsteinischen Land nahe der dänischen Grenze. Ein
Jogger, der Dorfpfarrer Arnold Gnaatz (zufällig ist hier
nichts, seine Weltanschauung wird noch gebraucht), vernimmt
Opernmusik aus einem scheinbar verlassenen Haus. Er findet die
Leiche von Hans Jacobi, festgebunden auf einem Stuhl, ein langes
Martyrium muss seinem Tod vorausgegangen sein. Dazu die Arie der
Königin der Nacht in Endlosschleife: "Der Hölle Rache
kocht in meinem Herzen."
Mit
dem kleinen Kriminalbeamten Anton Glauberg, der, wenn es in diesem
Roman einen Helden gäbe, dessen Stelle einnehmen würde,
erscheint auch gleich seine Gegenspielerin auf dem Plan: Paula
Reinhardt, 30, ehrgeizige Mitarbeiterin des BKA, im Osten geboren
und aufgewachsen. Reinhardt und Glauberg führen die Verhöre
zusammen durch. Wie von selbst wird so die Ost- und die Westsicht in
jedes Gespräch eingebracht und auch das Konfliktpotenzial
zwischen Mann und Frau. Anton Glauberg lebt seit einem halben Jahr
von seiner Familie getrennt: Die ständigen Diskussionen mit
seiner Frau bei der Übergabe des Sohnes sind ein wesentlicher
Subtext der Geschichte.
Ulrich
Woelk, dessen Roman "Liebespaare" vor gerade mal
eineinhalb Jahren erschienen ist, beherrscht die epische Form
virtous. Gelegentlich streift seine plastische Prosa das allzu
Gediegene, wenn vor lauter Erzählfreude auch noch das letzte
Substantiv ein Adjektiv verpasst bekommt. Aber das nimmt man gerne
hin. Nach nicht einmal 50 Seiten hat Woelk das Spielfeld seines
Romans so geschickt eröffnet, dass er an allen Ecken und Enden
gleichzeitig operieren kann. So entsteht ein Porträt der
Gegenwart. Und es ist erstaunlich facettenreich.
Die
Vergangenheit von Hans Jacobi, der auf den Fahndungsplakaten
Westphal hieß und sich mit Hilfe der Stasi in die DDR
abgesetzt hatte, um nach der Wende unter dem Namen seiner Mutter,
diesmal mit Unterstützung des BKA, in das ererbte Bauernhaus zu
ziehen, lässt einen terroristischen Hintergrund vermuten. Wer
könnte am Tod eines ausgestiegenen, zurückgezogen lebenden
Ex-Terroristen Interesse haben?
Stasi-Offiziere,
BKA-Spitzel, ehemalige WG-Genossen, neue Karrieristen, Jacobis
Ex-Frau und die Witwe eines Terror-Opfers: Sie alle kommen zu Wort.
Nur ein einziger nicht: Hans Jacobi selbst. Er ist tot, wenn der
Roman beginnt. Und es ist offensichtlich, dass Woelk dem Terrorismus
keine Stimme geben wollte. Woelk interessiert sich durchaus für
den Terrorismus, er interpretiert ihn nur anders. Sein Roman
profiliert eine gewagte These: Das Politische am Terrorismus ist nur
vorgeschoben. "Die letzte Vorstellung" handelt von der
eruptiven Kraft verdrängter Gefühle.
So
atmet Woelks Roman den stillen Konservativismus der heute um die
Vierzigjährigen. Irgendwie ist man schon noch politisch -
schließlich wurde man im Aufwind der 68er sozialisiert und
rechnete sich gelegentlich gedankenlos dazu -, aber richtig ernst
nehmen kann man das alles auch nicht mehr. Am Ende ist der Pfarrer
Arnold Gnaatz der Einzige, der die Hoffnung noch nicht aufgegeben
hat, "dass die Welt sich ändern könnte". Und
während er über die Deiche davonjoggt, hebt Glauberg den
Blick zum Himmel. "An einem Tag, wie er jetzt begann, lebte man
hier in einem immensen Raum aus Licht."