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Kaliber 68
Von Andreas Rauch
Die politische Dimension des neuen Romans von Ulrich Woelk wird bereits im Vorspann deutlich. Da nimmt der erfolgreiche Berliner Autor Bezug auf die Studentenproteste von 1967 gegen Notstandsgesetze, Vietnam-Krieg und Springer-Presse. Woelk erinnert an die Entführung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer 1977 und den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik 1990. Doch besonders hat es dem Verfasser die Tatsache angetan, dass der Student Benno Ohnesorg 1967 von Polizisten lebensgefährlich verletzt wurde, während der persische Schah in der Oper "Die Zauberflöte" hörte. Dieser Widerspruch, der die ganze Spapnung von jugendlichem Idealismus und machtpolitischem Realismus aufzeigt, durchzieht diesen Roman. Die Zauberflöte - sie ist für Woelk Sinnbild seelischer Verletzungen und menschlicher Gebrochenheit.
Die Romanhandlungbeginnt mit der Opernmusik von Mozarts "Zauberflöte", die aus einem scheinbar verlassenen Haus am Deich ertönt und einen joggenden Pfarrer zum Schauplatz eines brutalen Mordes führt. Kein alltäglicher Fall, handelt es sich bei dem Opfer doch um ein ehemaliges RAF-Mitglied. Bei den Ermittlungen von Kriminalkommissar Anton Glauberg und seiner BKA-Kollegin Paula Reinhardt entpuppt sich schließlich ein gesellschaftspolitisches Verwirrspiel, das Fragen nach den Wurzeln von Gewalt, Macht und Verantwortung aufwirft. Ihre Brisanz liegt darin, dass Woelk Strukturen politischer Herrschaft skizziert und kritisiert, die prägend waren für das "politische Bonn" und charakteristisch sind für das "politische Berlin".
In Woelks fiktivem Stück verkörpern der aus dem Westen stammende Glauberg und die in Ostberlin aufgewachsene Reinhardt unterschiedliche Biografien und Ideologien. Für Reinbardt ist der RAF-Terrorismus nichts weiter als eine zynische Form von Kriminalität. Glauberg erkennt jedoch in der 68er Bewegung und der daraus resultierenden RAF auch den Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung, Liebe und Frieden sowie neuen Lebensimpulsen. Ein ehemaliger Stasi-Oberst äußert den Verdacht, das RAF-Bekennerschreiben bei der Ermordung Rohwedders in Düsseldorf-Oberkassel sei unecht und eines der vielen Betrügereien des "BRD-Staates" an seinen Bürgern. Für Glauberg hingegen ist die deutsche Wiedervereinigung nach vier Jahrzehnten totalitärer Herrschaft in der DDR ein Segen. Von Anfang bis Ende des Romans wird der Leser geradezu seelsorgerisch von der Figur des Pfarrers Gnaatz begleitet, die in keiner Weise moralisch aufdringlich wirkt.
Überhaupt stellt Woelk zahlreiche Verbindungen zu Begräbnissen, Friedhöfen, Grabsteinen sowie Fragen nach dem Sinn von Leben und Tod her. Sogar die Theologie der Befreiung in Lateinamerika ist dabei ein Thema. Angesprochen auf die Bedeutung Gottes für den Menschen, lässt Woelk den Pfarrer sagen: "Gott ist kein Puppenspieler, sondern unser Ratgeber." Auch in "Die letzte Vorstellung" bleibt Ulrich Woelk seinem Markenzeichen als ein Meister der genauen Beobachtung treu. Doch diese vordergründige Sachlichkeit des gelernten Physikers hat emotionalen Tiefgang, wie sein Erstling "Freigang" (1990) und seine "Liebespaare" (2001) dies bereits unter Beweis stellten.
Die Verarbeitung zeitgeschichtlicher und politischer Themen ist Woelk nicht fremd - schon in seinem Theaterstück "Tod Liebe Verklärung" (1992) hat er sich mit der deutschen NS-Vergangenheit kritisch auseinander gesetzt. Der breite Zuspruch, den der Autor Ulrich Woelk erhält und der seine Schriftsteller-Existenz ermöglicht, ist absolut gerechtfertigt: Seine Literatur ist eine nachdenkliche Auseinandersetzung und Verarbeitung der jüngsten deutschen Vergangenheit und Gegenwart, die Fragen nach Sinn- und Lebensorientierungen aufwirft und dabei christlich begründete Werte berücksichtigt. Darüber hinaus ist "Die letzte Vorstellung" also mehr als ein packend geschriebener und leicht zu lesender Krimi, der von der ersten bis zur letzten Seite fesselt - und zugleich betroffen und nachdenklich macht.