Das Rätsel des Opfers
Kleenex Kernspaltung
Christoph Haas
Es
ist Sommer. Bernhard fährt zusammen mit Anselm, seinem ältesten
Freund, hinaus aufs Land. Bukolische Sehnsucht treibt ihn, aber auch
die Aussicht, die schleppende journalistische Karriere mit einem
sensationellen Coup voranzutreiben. Denn Anselm, der in Berlin als
Anwalt viel Geld verdient, ist von einem bizarren Plan besessen: Auf
dem Boden des Templiner Sees vermutet er eine Kiste, die Einstein
kurz vor seiner Emigration versenkt hat. Anselm will sie bergen und
erhofft von den geheimen Unterlagen, die sie enthalten soll, nichts
Geringeres als Aufschluss über die Weltgesetze", über
das Große und Ganze". Von einem früheren
Stasi-Offizier hat er ein Hausboot übernommen, von dem aus er
seine Tauchgänge unternehmen will. Gesine, seine anspruchsvolle
Frau, ist zunächst wenig begeistert von der Aussicht, hier ihren
Sommer zu verbringen. Dann aber verwandelt sie durch einen
Blitzeinsatz diverser Handwerker die heruntergekommene DDR-Erbschaft
in ein fashionables schwimmendes Apartment. Zwei Männer und eine
Frau in einem Boot, von der Hitze ganz zu schweigen kann das gut
gehen
Natürlich
nicht: Es bleibt, während Anselm unter Wasser seine Kreise
zieht, nicht beim Plaudern und Entkorken zahlreicher Weinflaschen:
Rasch landen Gesine und Bernhard im Bett. Ihre Leidenschaft entflammt
am Aufeinandertreffen zweier Arten von Verlangen: Seiner Trägheit,
die bereit ist, um der sinnlichen Erfahrung des Daseins
willen jeder Versuchung nachzugeben, entspricht ihre egoistische,
lebenshungrige Ader".
Figur der Gesine ist das erzählerisch Beste, das Einstein
on the lake" zu bieten hat. Als Bernhard ihr begegnet - zuvor
hatte er sie stets nur in schummerigem Partylicht gesehen - ist er
überrascht von den Spuren des Alters, die wie ein Netz ihr
Gesicht überziehen. Gesine hat zu viel und zu schnell gelebt.
Sie hat sich nie Ruhe gegönnt, und gönnt sie sich auch
jetzt nicht, mit Anfang vierzig, im Frühherbst ihrer Jahre. Wenn
sie sich mit Kleenex-Tüchern ruhig und konzentriert von
Bernhards Samen reinigt, ist sie die zeitgemäße, vulgäre
Version der Marschallin aus dem Rosenkavalier": Ein
Bein angewinkelt auf einen Hocker gestellt und beim Wischen leicht
vorgebeugt, gerieten ihre Brüste, die ein wenig die Form von
Cognac-Schwenkern haben, schmal am Ansatz und bauchig um den dunklen
Hof herum, dabei in ruhige schwere Schwingungen, bis schließlich
ein großer Teil dessen, was sie von mir empfangen hatte, vom
weichen Zellstoff aufgesogen worden war. Zum Schluß ergriff sie
die Tücher und verließ den Raum, um sie in die
Toilettenschüssel zu werfen und von dort in den Auffangbehälter
der Firma Hygio-Tek zu befördern, einen hundert Liter
Kunststofftank mit geruchsneutralisierenden und keimtötenden
Substanzen, der einmal pro Woche von einem tuckernden Serviceboot
leergesaugt und wieder mit frischer Desinfektionsflüssigkeit
aufgefüllt wurde."
Aus
seiner Vertrautheit mit den Schriften Einsteins entwickelt Woelk
amüsante Spekulationen und Aperçus über das Leben, die
Liebe und die Zeit. So betrachtet Bernhard seinen Schwanz
unter dem Gesichtspunkt der Relativität", und Gesine findet
zu einer eigenwilligen Auslegung der Erkenntnis, dass Materie
thermische Energie enthält: Und wie ist es mit uns? Mit
Unseren Seelen? Mit unserer Sehnsucht nach Energie und Leidenschaft?
Unsere Energie ist in Ehen gebunden, so sieht's aus. Und wie bei
Atomen gewinnt man sie erst bei der Spaltung zurück."
In
Szenen, die mitunter an spätimpressionistische Gemälde
erinnern, erhellt Woelk zudem die Dialektik von Bernhards
sentimentalischem Verhältnis zur Natur: Dem sehnsüchtigen
Erleben geht die Erfahrung unaufhebbarer Getrenntheit voraus.
Einstein on the lake" heißt im Untertitel Eine
Sommer-Erzählung". Wie im Sommernachtstraum",
auf den Woelk anspielt, wären die emotionalen und
intellektuellen Verwirrungen, die er schildert, zu einer anderen
Jahreszeit kaum möglich. Der Untertitel lässt sich aber
auch als Leseanweisung verstehen: Einstein on the lake"
ist ein Liegestuhlbuch auf hohem Niveau.