Das Rätsel des Opfers
Verhängnisvolle Affäre
Frank Dietschreit
Wer Zeit und Raum krümmen und dem
lieben Gott fast die letzten Rätsel entlocken konnte, hat
bestimmt selbst auch ein paar Geheimnisse mit ins Grab genommen. Denn
auch wenn ein Leben so gut ausgeleuchtet und in diversen dickleibigen
Biografien nacherzählt ist wie das von Albert Einstein, gibt es
sicherlich ein paar weiße Flecken. Nun existiert zwar kein
Hinweis darauf, Einstein könnte vor seiner Abreise nach Amerika
wichtige Unterlagen, die den Nazis nicht in die Hände fallen
sollten, in einer Kiste versteckt und im Templiner See versenkt
haben. Doch die Idee hat zweifellos etwas Sympathisches und
Magisches. Und wenn man bedenkt, dass Einstein ein passionierter
Segler war, der häufig in seinem Sommerhaus in Caputh und auf
seinem Boot gesichtet wurde, bekommt die skurrile Idee sogar etwas
Plausibles.
Anselm jedenfalls, der sonst
paragraphentreue Jurist, ist so elektrisiert vom Gedanken, einen
Einstein-Schatz heben und eine Medien-Sensation lostreten zu können,
dass er seiner Kanzlei für Monate Adieu sagt und einen langen
brandenburgischen Sommer auf einem Hausboot zubringt. Während
Anselm seine Tage im Tauchanzug verbringt und jeden Zentimenter des
Templiner Sees absucht, dösen seine Gattin Gesine und der zum
Mitverschworenen und Medienberater auserkorene Journalist Bernhard in
der Sonne. Wie das enden könnte, nachdem Gesine und Bernhard
hinreichend über Einsteins Theorien philosophiert und Unmengen
an gekühltem Nobelwein getrunken haben, kann man sich relativ
leicht ausmalen. Der sisyphosartige Tauchgang wird zu einer Odyssee
in die Abgründe von Lug und Trug, von Eifersucht und verbotener
Liebe. Und aus einer eher neckischen Erzählung eine großartige
Novelle. "Einstein on the beach" heißt eine dieser
rätselhaften Bühnenzaubereien von Robert Wilson, dem
Erfinder der theatralischen Langsamkeit. Philip Glass hat für
das poetisch-kühle, mit magischen Bildern agierende Opernwerk
(uraufgeführt 1976) die Musik geschrieben: eine minimalistische,
mit nur wenigen Tönen und Akkorden auskommende Klang-Monotonie
der besonderen, den Zuhörer angenehm schläfrig und
kontemplativ stimmenden Art. Angenehm schläfrig und kontemplativ
ist - zunächst - auch Ulrich Woelks "Einstein on the lake".
Bernhard, der ironisch gestimmte Erzähler der Geschichte und
genusssüchtige Egomane, und Gesine, die auf Partner-Probleme
abonnierte Mediatorin und emanzipierte Karrierefrau, haben jedenfalls
erst ihren Spaß mit eigenwillig interpretierten und
sommersonnenfaul verquirlten Einstein-Gedanken, dann mit ihren
ausschweifenden sexuellen Fantasien. Warum sollten sie Rücksicht
nehmen auf den in den Raum abgetauchten Anselm, und warum sollten sie
Schuldgefühle haben, wo doch die Zeit nur eine Illusion ist?
Verblüffend, mit welch
erzählerischer Leichtigkeit und Eleganz Ulrich Woelk seine Fäden
spinnt, berauschend, wie er knappe und präzise Schlaglichter auf
seine drei hoffnungslos miteinander verstrickten Figuren wirft. Die
Atmosphäre von schweißtreibender Schwüle legt sich
über die Erzählung.
Der von Einstein-Sottisen genauso wie
von erotischen Eskapaden animierte Leser beobachtet amüsiert und
kopfschüttelnd, wie die Verfolgung einer fixen Idee bei drei
Menschen bisher unbewusste Wesenszüge freilegt und sie
unaufhaltsam in Grenzsituationen treibt. Die verrückte
Schatz-Suche ist nur ma-kabrer Anlass für eine verhängnisvolle
Affäre, deshalb erspart uns der Erzähler auch jede
Spekulation, was wohl in der Einstein-Truhe versteckt sein könnte.
Jeder noch so lange Sommer endet irgendwann mit einem reinigenden
Gewitter. Das kommt auch bei Woelk. Nur eben etwas anders, als sich
das Einsteins Erben erhofft haben