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Textauszug: EINSTEIN ON THE LAKE - Beginn der Erzählung
MIT ZWANZIG wollte ich Schriftsteller werden. Mein erster Roman, den ich auf sechs- bis siebenhundert Seiten veranschlagte, handelte von einem Mann, für den sich die Richtung der Gravitation über Nacht umkehrte. Mein Held - eine autobiographisch gefärbte, existen-tialistische Charaktermixtur - wachte auf, weil er an die Zimmerdecke gefallen war, und betrachtete verwundert das über ihm schwebende Bett, das am Fußboden festzukleben schien. Ich tippte die Geschichte, eine Menge Zigaretten rauchend, auf einer elektrischen Olivetti, trank Rotwein und ergab mich mit melancholischer Inbrunst und durch-drungen von dem Wunsch, etwas Großes und Besonderes zu erschaf-fen, in das, was ich für mein zukünftiges Schriftstellerleben hielt. Draußen, irgendwo weit fort von mir und meinen Gedanken, war es Winter, und es fiel nicht sehr viel Licht ins Zimmer. Sowieso hatte ich den Schreibtisch gegen eine fensterlose Zimmerwand gerückt, um den kafkaesken Charakter meines Werks nicht durch störende Realitäts-einflüsse zu gefährden. Akribisch und ganz von meiner literarischen Mission überzeugt beschrieb ich, wie es ist, wenn alles auf dem Kopf steht und jeder Handgriff und jede Selbstverständlichkeit zu einem gewaltigen Problem wird. Ich schlief auf einer Klappcouch, und wenn ich ein paar Absätze vollendet hatte, lag ich dort, stierte an die Zim-merdecke und dachte über diesen eigenartigen Kosmos nach, den zu erschaffen ich mich im Begriff sah. Und bei allem, was mein unglück-licher, zum Surrealismus verurteilter Held tat, ob er durch Türöffnun-gen kletterte oder ein Ei zum Braten in die Pfanne steigen ließ, war ei-nes immer gewiß: Er würde das Haus, in dem er wohnte, niemals mehr verlassen können. Vor der Tür, dort wo für andere die Welt und das Leben begann, lag für ihn nichts als ein unendlich tiefer Abgrund.
Soweit ich mich erinnere, schrieb ich rund hundert Seiten in diesem Winter, von dem ich ansonsten nur wenig mitbekommen habe. Aber im Frühjahr, als die Sonne wieder höher stieg und ein schönes Licht-muster auf die Rauhfasertapete warf, kam ich mit dem Roman nur noch schleppend voran. Ich öffnete die Haustür, und als ich in die weiche Frühlingsluft hinaustrat mit ihrem dichten erdigen Wach-stumsgeruch, den ich tief einsog, erfüllte mich der brennende Wunsch, ganz und gar in diesem einen Augenblick aufzugehen. Mein literari-sche Ehrgeiz verflüchtigte sich, und irgendwann gab ich es auf, der Welt und dem Leben den Rücken zu kehren. Mein erster und einziger Roman blieb unvollendet.
Später erst - Jahre später - war ich in der Lage zu verstehen, warum ich nicht Schriftsteller hatte werden können. Ich empfand damals eine unbestimmte Trauer, als hätte ich in jenem Winter und in dem ver-rauchten kleinen Zimmer einen Teil meiner Jugend verloren, doch der Grund dafür war einfach und dadurch zugleich ein wenig erschüt-ternd: Ich bin kein Schriftsteller. Ich bin nicht der Mensch, der sich wochen- und monatelang von der Welt zu lösen vermag, sondern hän-ge schmerzlich und unwiderruflich an allem, was ich mit meinen Sin-nen aufzunehmen und in mich hineinzusaugen in der Lage bin.
Ich gebe es zu: Geistige Nahrung allein vermag meinen Hunger aufs Dasein nicht zu stillen - das habe ich mit den Jahren über mich ge-lernt. Doch hat sich alles, was ich zum Leben brauche, bisher auf die-ser Seite der Welt reichlich gefunden, im willfährigen Spiel ihrer Far-ben und Formen. Jetzt aber - und nach dem, was in den langen über-hitzten Tagen des vergangenen Sommers geschehen ist - scheint sich mein lichtes weltliches Karma als düsterer Irrweg zu erweisen. Ich stehe kurz davor zu verwahrlosen und habe erneut meine Wohnung (eine andere als damals - das schon) seit Wochen nicht mehr verlas-sen. Und gelegentlich beschleicht mich die grauenvolle Sorge, unsere ältesten Dichtungen und Mythen könnten möglicherweise recht haben: Diejenigen, die dem Sinnesgenuß und den Verlockungen des Diesseits nicht zu widerstehen vermögen, enden in den Fegefeuern der Unter-welt und den Qualen ewiger Verdammnis.


ICH HABE MEINE AUFZEICHNUNGEN für kurze Zeit unterbrochen und blicke unentschieden aus dem Fenster in einen sepiafarbenen Herbst-tag. Der Nebenstraßenverkehr drei Stockwerke tiefer, der von diversen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen, die man vor ein paar Jahren vorge-nommen hat, weitgehend gezähmt worden ist, droht gelegentlich, wenn ich hinabsehe, mich in Trance und Leblosigkeit zu versetzen. Und manchmal beobachte ich den einen oder anderen Passanten dabei, wie er im Zeitungsladen gegenüber verschwindet und kurz darauf wieder herauskommt, ganz so wie die Luft meiner Atemzüge mit me-ditativer Stetigkeit in mich herein- und wieder hinausströmt. Mein Körper will nicht sterben - das ist die Botschaft, die ich aus diesem Automatismus immerhin noch empfange.
Und so gehorche ich also meinem weiteratmenden Körper und setzte diese Aufzeichnungen fort, die mich zurück zu jenem Sommertag vor einem halben Jahr führen, als sich ein blitzblanker metallicblauer Nis-san Patrol in eine der freien Parklücken auf der gegenüberliegenden Straßenseite geschoben hat. Normalerweise sind solche City-Jeep-Rangiervorgänge, die von oben immer ziemlich plump und fernge-steuert aussehen, für mich nicht mehr als eine Art riesiger Bildschirm-schoner, und ich messe ihnen keine Bedeutung zu. Aber damals, vor einem halben Jahr also, öffnete sich die Tür des Nissan, dessen Ab-stand zum Nachbarwagen kaum mehr als einen halben Meter betrug, und Anselm Stöckl schlängelte sich vom Fahrersitz herunter. Das war ziemlich ungewöhnlich. Anselm und ich hatten vor etwa fünfunddrei-ßig Jahren den gleichen Schulweg, und erstaunlicherweise schätzten wir uns immer noch. Ich erkannte ihn von oben am rötlichen Schim-mern seiner Haare und an der zielstrebigen, federnden und ein wenig linkischen Art, mit der er die Straße überquerte.
Schulfreundschaften sind etwas Merkwürdiges, vor allem, wenn sie die Zeit überdauern. Auf eine bestimmte Art war mir Anselm voll-kommen vertraut, viel vertrauter, als es dem tatsächlichen Stand unse-rer Freundschaft entsprach. Wir verabredeten uns nur selten, und dar-über hinaus gab es ein paar Überschneidungen in unseren jeweiligen Bekanntenkreisen, so daß wir uns ein- oder zweimal im Jahr auf Par-tys begegneten und ein paar Gläser Wein zusammen leerten. Und doch war unsere Freundschaft so tief in uns verwurzelt, daß mich An-selm vor sieben Jahren tatsächlich gebeten hatte, Trauzeuge bei seiner Hochzeit zu sein, über die ich an geeigneter Stelle noch ein paar Be-merkungen zu machen haben werde. Wir waren seit dem Abitur ziem-lich unterschiedliche Wege gegangen, und manchmal hatte ich den Eindruck, als mißtrauten wir einander immer auch ein wenig. Aber vielleicht bilde ich mir auch nur ein, daß Anselm mir mißtraute, weil ich Journalist geworden bin und automatisch annehme, daß mir je-dermann mit einem gewissen Argwohn begegnet.