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Spiel mit verschiedenen Identitäten
Roland Krüger
Der Mathematiker Paul Gremon liebt es klar und übersichtlich - und doch wird sein Leben zum Chaos: Er wird mit einem Bestsellerautor verwechselt, veröffentlicht unter Pseudonym ein Buch und verirrt sich im familiären Scheidungskrieg. Ulrich Woelks Roman "Joana Mandelbrot und ich" ist ein intelligentes Gedankenspiel über den Sinn der Regellosigkeit.
Paul Gremon arbeitet als Mathematikprofessor in Berlin. Er lebt in Scheidung, geht jeden Freitag ins Bordell und schreibt an einem mathematischen Fachbuch über die Macht des Zufalls. Da läuft ihm ein Feuilletonredakteur über den Weg, der glaubt, bei dem Professor handle es sich um den Sensationsschriftsteller Leon Zern. Dieser hat ein Buch über einen Serienkiller verfasst, der bei seinen Attentaten nach mathematischen Regeln vorzugehen scheint, was in Pauls Augen jedoch keinerlei Prüfung standhält. Trotzdem macht Paul das Spiel mit und gilt fortan als Verfasser eines höchst erfolgreichen Bestsellers. Dieser Umstand bringt ihm Geld ein, steigert aber auch die Erwartungshaltung an sein zu verfassendes mathematisches Büchlein enorm. Da erklärt ihm eines Freitags die selbstbewusste Prostituierte Joana im Bordell, dass sie einen autobiografischen Roman geschrieben habe, dem nur er - der Bestseller-Autor Leon Zern - die nötige Starthilfe geben könne. Paul veröffentlicht also unter Pseudonym einen Roman, in dem er selbst die Hauptrolle als Freier spielt. Mathematische Chaostheorie und das Chaos im eigenen Leben sind für den Professor nun kaum noch auseinander zu halten.
Ulrich Woelks Roman ist eine intelligente Satire auf den Literaturbetrieb und ein kritisches Kompliment an die wissenschaftliche Mathematik zugleich. Dem Autor gelingt es mit enormer Leichtigkeit, eine Wissenschaft zu preisen und zugleich ihre Schwächen zu sehen. Als Mathematikprofessor verabscheut sein Held ungenaue Begriffe. Als ihm jedoch seine Tochter Polly offenbart, dass sie ihn "tausend-unendlichfach" liebhabe, lässt er diesen Begriff nur allzu gern gelten, auch wenn er mathematisch nicht haltbar ist. "Joana Mandelbrot und ich" ist vor allem sprachlich ein Genuss. Die Dialoge sind herzerfrischend, etwa die Streitereien zwischen Paul Gremon und dessen Noch-Ehefrau Liv oder die finanziellen Verhandlungen des Helden mit seiner Literaturagentin Cora, in denen jeder nur so viel preisgibt, wie der andere ohnehin schon weiß.
Das Gefälle vom hohen Anspruch eines Professors an die Vernunft zu den menschlichen Tiefen seiner alltäglichen Handlungen ist kaum plastischer zu beschreiben. Paul lässt seiner Tochter zu Weihnachten ein überdimensionales Karussell ins Zimmer stellen, um für ein paar Tage ihr großer Held zu sein. Seine Chancen, unverschämte Unterhaltszahlungen im Scheidungskrieg künftig noch drücken zu können, sind damit endgültig passé. Aber der Mensch hat über den Mathematiker gesiegt. Wenn jemand den Literaturbetrieb durchschaut hat, dann ist es vermutlich Ulrich Woelk. Sein Roman ist zugleich eine Reflexion über die Rolle als Autor. Das Spiel mit den verschiedenen Identitäten - Mathematikprofessor, Ex-Mann, verzweifelter Vater, Bordellgänger, vermeintlicher Bestseller-Autor - ist zunächst ja nicht mehr als ein hektisches Rollenspiel. Doch Woelk fügt eine weitere literarische Ebene hinzu: die Wahrnehmung des Ganzen durch die Medien und die Öffentlichkeit. Nun wird dem Leser schlagartig klar, dass die Regeln des Literaturbetriebs denen der Mathematik diametral entgegengesetzt sind. Mehr noch: Ulrich Woelk wirft die Frage auf, ob es nicht auch eine Regel ist, wenn etwas keinen Regeln mehr folgt - ein Gedankenspiel von hoher Qualität. Dass es dem Autor gelingt, diese Frage durch den gesamten Roman zu ziehen, ohne in universitäre Gefilde der Chaostheorie abzuheben, macht die Qualität des Romans aus. Gleichzeitig ist dieses selbstkritische Spiel der Garant für ein großes Lesevergnügen.