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Romantik in der Wissenschaft
Detlef Grumbach
Die Chaostheorie, die Macht des Zufalls und das alltägliche Leben: Der Berliner Mathematikprofessor Paul Gremon, Hauptfigur und Icherzähler in Ulrich Woelks neuem Roman, präsentiert eine unglaublich abenteuerliche Geschichte. Eigentlich hatte er ein populäres Sachbuch über Mathematik, auch über die Chaostheorie Benoît Mandelbrots, schreiben wollen. Dann wird er aufgrund einer zufälligen Begegnung für den berühmten Bestseller-Autor Leon Zern gehalten, denn Zern ist ein Pseudonym, niemand weiß, wer sich dahinter verbirgt. Gremons Agentin wittert eine Chance, also spielt er die Rolle des anderen, leiht im seine Identität, gibt Interviews.
Dann ist auch noch eine Prostituierte, Joana, die der Professor regelmäßig besucht, der er sich auch anvertraut. Die hat einen Roman in der Schublade, in dem sie von ihrer Beziehung zu ihm erzählt - unter dem Pseudonym Joana Mandelbrot. Sie sieht in der plötzlichen Literatenkarriere ihres Freiers die Chance ihres Lebens, und er veröffentlicht das Buch als Leon Zern. So wird Gremon auch noch zum Autor eines Romans, dessen Hauptfigur er selbst ist. Und welches Buch hat nun der Leser in der Hand? Ulrich Woelk ist zwar kein Mathematiker, aber immerhin Astrophysiker, er hat gerade ein populäres Sachbuch unter dem Titel "Sternenklar" veröffentlicht. Man traut sich kaum zu fragen, aber: hat er den Roman mit dem Titel "Joana Mandelbrot und ich" wirklich selbst geschrieben?
Der Riss, der durch die Person des Autors geht, wird weder gekittet noch kaschiert. Er wird mit Lust und Laune in Szene gesetzt, ausgekostet, mit Seitenhieben auf den Literaturbetrieb unterstrichen. Da ist von dem Feuilletonisten die Rede, der die Kunst beherrsche, so wörtlich, "Sätze zu sagen, bei denen es nicht darauf ankam, ob sie zutrafen oder nicht; eloquente Darlegungen, bei denen die Frage, ob wahr oder unwahr, irgendwie pingelig wirkte", der den Bestseller, bevor er Gremon als vermeintlichen Autor dazu interviewt, immerhin schon "vom Hörensagen und Drüber-Schreiben" kannte. Doch geht es Woelk in dem Roman nicht um Klamauk. Das vielleicht auch, und sein Spaß daran überträgt sich sofort auf den Leser. Dahinter aber steht die Frage, wie wahr und falsch zu unterscheiden sind, ob die Welt sich überhaupt noch erklären lässt. Sind die Wissenschaftler die letzten Romantiker, wie Gremons Agentin ihm vorhält?
Die Spannung, die zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis - wahr oder falsch - und subjektiven Erleben besteht, macht der 48jährige Autor jetzt schon im dritten Roman produktiv: Mit beiden Beinen auf dem Boden greifbarer Realitäten lässt er die Kerngedanken abstraktester Theorien mit Macht in den Alltag seiner Figuren fahren lässt. Er erzählt moderne Liebensgeschichten, in denen Relativitätstheorie, Quantenphysik oder die Chaostheorie ihren geheimen Zauber entfalten. Begonnen hat er diese Serie vor drei Jahren mit "Einstein on the Lake", fortgesetzt mit "Schrödingers Schlafzimmer" und jetzt mit "Joana Mandelbrot und ich". Dass der Zufall aus dem Wissenschaftler einen Literaten macht, ist hier nur der Anfang einer Kettenreaktion. Die Sache wird auf die Spitze getrieben, als Gremon seinen jungen, gut aussehenden Kollegen von der Uni zum Fototermin mit der Presse schickt, als zur verschwimmenden Identität noch ein falsches Bild hinzukommt. Der Held, immer in Geldnot, steht zwischen Ex-Ehefrau, Prostituierter und neuer Geliebten, zwischen Kunst, Wissenschaft und Marktgesetzen. Wie jeder Autor, so wird auch Paul Gremon alias Leon Zern von Lesern und Kritikern mit seinen Hauptfiguren identifiziert - mit einem grausamen Mörder im Fall des Bestsellers, mit einem Mathematiker, der ein Verhältnis zu einer Prostituierten hat, im Fall des Romans von Joana, der natürlich unter dem Titel "Joana Mandelbrot und ich" erscheint
Und hier sind wir schon wieder fast bei der Wahrheit, schließlich hat Joana über ihn geschrieben. Virtuos, mit artistischem Geschick dreht Ulrich Woelk an der Schraube "Zufall", fügt immer neue Wendungen hinzu und bringt das Kunststück fertig, dass niemand im Chaos versinkt, dass am Ende alle Beteiligten sogar etwas davon haben: Geld, Glück in der Liebe, Veränderungen im Beruf. Und die Leser werden intelligent und witzig unterhalten!