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Textauszug:
JOANA MANDELBROT UND ICH - Beginn der Erzählung
„Paul“, sagte Joana zu mir,
„ich sehe dir an, daß du nicht glücklich bist. Laß
uns etwas dagegen unternehmen.“
„Wie sollte ich auch glücklich
sein?“, entgegnete ich. „Meine Ehe existiert nur noch auf
dem Papier, und meine Tochter hat eine Rechenschwäche.“
Wir saßen in der kleinen
schummrigen Bar, in der hier die Gäste empfangen wurden. Joanas
Kolleginnen kannte ich nur vom Sehen, das aber ziemlich gründlich
– so war es Sitte hier. Wir alle trugen nicht viel am Leib; ich
ein Frotteehandtuch und Joana ein kurzes transparentes Stück
Stoff, wie Frauen es sich am Strand um die Taille schlingen. Wir
schmiegten uns auf einer roten Plüschcouch aneinander und
lauschten der Musik, die sanftrhythmisch dahinstrich. Ich trank einen
leichten Weißwein und Joana Wasser. Der Rand ihres Glases war
mit einer aufgesteckten Limettenscheibe verziert. Über die
Phase, in der ich mir ihre Gesellschaft mit einer Flasche Champagner
verdienen mußte, waren wir hinweg. Seit wir uns kannten, hatte
ich fünfzig oder sechzig Mal mit ihr geschlafen, so häufig
wie mit keiner anderen Frau außer Liv.
Beim ersten Mal, vor etwas mehr als
einem Jahr, hatte ich – bar jeder Erfahrung auf dem Feld der
käuflichen Liebe – nicht gewußt, was mich erwartete.
Joana führte mich damals recht bald in eins der Separees, und
dort sollte ich mich aufs Bett legen und entspannen. Dann tat sie,
wovon sie annahm, daß ich es wollte. Ich konnte dabei aber kaum
etwas von ihr sehen, vor allem ihr Gesicht nicht, sondern nur eine
Art Zelt aus Haaren. Sie hatte allerdings sehr schöne Haare,
lang und lockig und schwarz. Sie stammte aus Ecuador (jedenfalls
behauptete sie das). Es war aber durchaus möglich, daß sie
südamerikanische Wurzeln hatte. Sie erzählte mir sogar die
Geschichte, wie sie angeblich nach Europa und schließlich nach
Berlin gekommen war, einem von Amors Pfeilen folgend. Es war eine
erotische Geschichte, die mich erregen sollte, aber sie machte mich
eher eifersüchtig. Die meisten ihrer Kolleginnen stammten aus
den ehemaligen Ostblockstaaten – aus Polen, Rußland oder
der Ukraine. In ihrer Mitte wirkte Joana mit ihrer dunkel
schimmernden Haut tatsächlich ein wenig exotisch. Augen, Nase
und Mund füllten ihr Gesichtsrund großzügig und
harmonisch aus. Ihre Stirn verschwand fast vollständig unter den
Haaren, und wenn die Arbeitstemperatur in den Separees, die nahe bei
dreißig Grad lag, sie zu sehr erhitzte, klebte die eine oder
andere gelockte Strähne an ihren weichen Wangen.
Wir hatten eine halbe Stunde bei jenem
ersten Mal, und es drängte mich nicht, schnell ans Ziel zu
kommen. Wir lagen nebeneinander und unterhielten uns. Sie erkundigte
sich nach meinem Beruf, aber es war unmöglich, ihr mit wenigen
Worten zu erklären, womit ich mich beschäftigte. Ich sagte,
vieles in meiner Wissenschaft sei wie ihre Haare, und das stimmte.
Ihre Locken erinnerten mich an ein Bild von Leonardo da Vinci, das
›Die Sintflut‹ hieß und einen verwirbelten
Wasserstrom darstellte. Solche Muster untersuchte ich. Allerdings
wußte Joana nicht genau, ob sie sich durch den Vergleich mit
der Zeichnung da Vincis geschmeichelt fühlen sollte oder nicht.
Die Sintflut, sagte sie, sei immerhin eine Strafe Gottes gewesen. Das
klang für mich so, als wäre sie katholisch – und aus
irgendeinem Grund glaubte ich, daß das für ihren Beruf von
Vorteil war.
Ich bat sie, ihren Namen mit dem
Zeigefinger auf meinen Rücken zu schreiben. Ich hatte dabei den
Eindruck, daß sie begann, mißtrauisch zu werden, denn uns
blieben nur noch zehn Minuten. Es war in ihrem Gewerbe wohl immer
Vorsicht angebracht bei der Bitte um etwas anderes als sexuelle
Befriedigung. Sie erklärte sich aber bereit, mir meinen Wunsch
zu erfüllen. Ich drehte mich auf den Bauch und sie schrieb mit
dem Zeigefinger ihren Namen auf meine Haut. Ich genoß das
sanfte Kitzeln am Rückgrat und erklärte ihr, daß ihr
Namenszug mit seinen o- und a-Wirbeln und seinen n-Wellen ebenfalls
eine Art Flut sei – wie ihre Haare und wie Leonardos Zeichnung.
Auf allen Ebenen und Größenordnungen der Dinge stoße
man auf die gleichen Formen. Ich sagte all das mit einer etwas
unangemessenen Ehrfurcht angesichts der Tatsache, wo ich war.
Doch Joana erfaßte meine
Stimmung, und mein Ernst erschien auf ihrem Gesicht wie auf einem
Spiegel. Es war ein Teil ihres Berufes, jedem meiner Worte
Verständnis und Wertschätzung entgegenzubringen. Und
ich lebte gerne in der Illusion, daß es so war. Ich genoß
es, in Gegenwart einer Frau über mich reden zu können, ohne
schon nach wenigen Sätzen unterbrochen und daran erinnert zu
werden, daß ich nicht der einzige Mensch auf der Welt sei.
Daß ich von Wirbeln und Fluten
sprach, nutzte sie, um wieder auf den Zweck meines Besuches
zurückzukommen. Unsere Zeit lief ab. In diesem Moment wurde mir
bewußt, daß ich mich vor dem Erreichen der sexuellen
Befriedigung fürchtete. Ich hatte den Umschlag von Ekstase in
Ernüchterung in den zurückliegenden Jahren ausschließlich
mit Liv erlebt. So sehr wir einander auch haßten, dafür
hatte es oft noch gereicht, Doch jetzt wäre es nicht Liv, die
mich dabei sehen würde, und das beunruhigte mich. Zugleich
fühlte ich mich Joana gegenüber aber verpflichtet, meiner
Rolle als Freier gerecht zu werden. Ich hatte solange geredet, und
nun einfach zu gehen, wäre mir wie eine Taktlosigkeit
vorgekommen, eine Mißachtung ihres Lebens und ihrer Person.
Zwar wußte ich nicht, ob ich an ihrer Seite überhaupt zum
Mann werden konnte, doch stellte sich schnell heraus, wie unbegründet
diese Sorge war. Ihre Erfahrung als Hure war meinem verkorksten
Seelenleben haushoch überlegen. Und so überließ ich
mich ihr mit einem unerwarteten Ergebnis: Als wir uns voneinander
verabschiedeten, war ich auch schon in sie verliebt.
Das war nun mehr als ein Jahr her.
Mittlerweile wußte sie viel von mir, ich aber fast nichts über
sie, abgesehen vielleicht von ihrem Musikgeschmack und den Duftnoten,
die sie bevorzugte. Ich wußte beispielsweise nicht, wie viele
Stammkunden sie hatte – und ich wollte es auch nicht wissen.
Bei dem Gedanken, wie viele Männer es in unserer Stadt
vermutlich gab, die in derselben Lage waren wie ich, wurde mir
schwindlig. Und ich fragte mich, wie Joana in ihrem Kopf Ordnung
hielt, wie sie die vielen Lebensbeichten, die sie wohl Nacht für
Nacht zu hören bekam, in ihrem Gedächtnis trennte und
abspeicherte. Zweifellos waren diese Beichten einander sehr ähnlich.
Doch seit ich Joana kannte, hatte sie meine Geschichte noch nie mit
der eines anderen Kunden verwechselt und Liv versehentlich Helga,
Irmgard oder Susanne genannt. Sie prägte sich jedes Detail
sicher ein, und so sagte sie auch jetzt: „Meintest du nicht,
das mit der Rechenschwäche deiner Tochter wäre eine
Erfindung deiner Frau? Liv will dich damit verletzen.“
Ich hatte ihr recht bald von Liv
erzählt – und warum auch nicht? Ich nahm an, daß
Joana ein gewisses Gespür für die weibliche Seite meines
Problems hatte. Jedenfalls dachte sie nicht lange über
meine Lage nach, sondern erklärte mir recht bald das Folgende:
Vermutlich war Liv von ihrer Mutter nicht genügend geliebt
worden und hatte sich vorgenommen, bei ihrer Tochter nicht den
gleichen Fehler zu begehen. Daher investiere sie ihre gesamte
emotionale Energie in ihre Mutterrolle, so daß für mich,
ihren Mann, nichts mehr übrigblieb.
Ich fand, das klang sehr vernünftig.
Außerdem hatte diese Theorie zwei sehr nützliche Aspekte:
Erstens konnte ich nämlich gegen die Tatsache, daß Liv
mich nicht mehr liebte, nur wenig, beziehungsweise überhaupt
nichts ausrichten, denn an ihrem Verhältnis zu ihrer Mutter und
an der Vergangenheit war ich nicht schuld. Und diese Dinge waren auch
nicht mehr zu ändern. Und zweitens gab mir Joanas Theorie das
Recht, das Defizit an Liebe, unter dem ich unverschuldet zu leiden
hatte, irgendwo auszugleichen, denn niemand konnte auf Dauer ohne
Zärtlichkeit und menschliche Nähe existieren.
Joanas Kurzanalyse meiner Ehe war für
mich und meine Probleme vielleicht etwas zu maßgeschneidert, um
wirklich wahr sein zu können – aber das störte mich
wenig. Psychologische Theorien, so sah ich es, hatten verschiedene
Dinge zu leisten. Natürlich sollten sie etwas erklären,
doch sie durften uns dabei nicht noch mehr deprimieren.
Einmal war ich bei einem renommierten
Therapeuten, den mir ein Freund empfohlen hatte. Aber Joana war
besser, wie ich schnell herausfand. Und billiger. Die Praxis dieses
Therapeuten war grandios und einschüchternd. Er war
ebenfalls der Ansicht, daß ein Mutterproblem vorlag –
aber nicht bei Liv, sondern bei mir. Liv hielt er für vollkommen
normal, und das erschien mir so absurd, daß ich ihn nach ein
paar Sitzungen nicht mehr besuchte.
Seiner Meinung nach war ich als
Einzelkind emotional zu verwöhnt, um in einer stabilen Beziehung
leben zu können. Er wollte mich zurechtstutzen. Je kleiner er
mich machte, um so größer wurde er, beziehungsweise das
Abhängigkeitsverhältnis zwischen uns. Ich vermute, das war
es, was in Wahrheit hinter seiner Analyse steckte. Er mußte
sicherstellen, daß ich ohne ihn verloren war, denn schließlich
gehörte ich zu denen, die seine teuren Anzüge und die
Praxismiete bezahlten. Das war sein Problem: Im Unterschied zu
Huren verdienten Therapeuten ihr Geld ausschließlich mit ihren
Analysen – darüber hinaus hatten sie ihren Patienten
nichts zu bieten. Joana war auf ihre Weise unbestechlich. Sie wußte
ganz genau, daß ich auf jeden Fall wiederkommen würde,
ganz unabhängig von ihrem psychologischen Gespür. Sie
konnte es riskieren, mir die Wahrheit zu sagen, weil sie wußte,
daß ich nicht als Patient, sondern als Mann von ihr abhängig
war.
„Wieso bist du so
niedergeschlagen?“, sagte sie jetzt. „Ist irgendwas
passiert?“
Um mich abzulenken, streichelte ich
ihre Brust. „Nichts von Bedeutung“, sagte ich.
Ich hätte ihr gerne erzählt,
was vorgefallen war, und dachte an den Vormittag in der Agentur und
die ernüchternde Tatsache, daß ich nur magere fünftausend
Euro für mein Buch bekommen würde. Doch war Geld das
einzige Phänomen von Bedeutung, das zwischen uns wirklich tabu
war. Wenn ich reich gewesen wäre, hätten wir über Geld
vielleicht sprechen können wie über Sport oder Musik. Aber
da ich es nicht war, sparte ich das Thema aus. Ich bezahlte sie auch
nie persönlich, sondern legte den bereits abgezählten
Betrag wie nebenbei auf den Tresen, bevor wir uns in eins der
Separees zurückzogen – ein Vorgang, der inzwischen soweit
zur Routine geworden war, daß ich ihn nicht mehr spürte.
„Was auch immer es ist“,
sagte Joana, „du solltest dir nicht allzu viele Gedanken
darüber machen. Ich hatte auch eine Rechenschwäche.“
„Ach, ja?“, sagte ich.
„Allerdings. Mit Zahlen habe ich
mich wirklich schwergetan. Und wie du siehst, ist trotzdem etwas aus
mir geworden.“
Wie hätte ich dem widersprechen
können. Ich dachte über Pollys Zukunft nach. Warum machte
ich mir überhaupt Sorgen? Aus ihr, der Tochter eines
Mathematik-Professors und einer Orchestermusikerin würde in
jedem Falle etwas werden, egal ob mit oder ohne Rechenschwäche.
Aber natürlich sehnte ich mich danach, daß sie mir ein
wenig ähnlich war, gerade weil Liv das so energisch bestritt.
Ich wollte nicht weiter über diese
Dinge nachdenken und zog mich mit Joana in eins der Separees zurück.
Niemals, so sagte ich mir, würde sie kleinkarierte Zänkereien
vom Zaun brechen, niemals würde sie pedantisch auf dem Sinn
einzelner Worte herumreiten, niemals würde sie schachern und
feilschen. Und dafür liebte ich sie, aber natürlich: nicht
nur dafür. Ich legte mich neben sie und ließ sie das tun,
was sie von Anfang an vorgeschlagen hatte und was sie immer tat:
Etwas dagegen unternehmen, daß ich unglücklich war.