Das
Rätsel des Opfers
Literatur und Physik
Vortrag gehalten in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur - Mainz
Meine
sehr geehrten Damen und Herren, ich bin eingeladen worden, um im
Rahmen der Poetikvorlesung von Herrn Professor Hillebrand hier vor
Ihnen über Literatur zusprechen, und zwar nicht aus
wissenschaftlicher Sicht, wozu ich auch nicht kompetent wäre,
sondern als Schriftsteller. Daß ich meinem Vortrag den Titel
"Literatur und Physik" gegeben habe, hängt nicht nur
damit zusammen, daß es sich hierbei um ein interessantes
interdisziplinäres, und damit im Trend liegendes Thema handelt.
Ich bin Schriftsteller, aber wie alle Schriftsteller, habe ich
diesen Beruf nicht erlernt, wo auch? Ich habe Physik studiert, habe
als Physiker gearbeitet, genau genommen als Astrophysiker, also
ausgerechnet in dem Zweig der Physik, der die Dinge zum Gegenstand
hat, die uns, zumindest räumlich, am fernsten liegen. Im
Gegensatz dazu erwartet man doch von der Literatur, daß sie
sich mit dem beschäftigt, was uns am nächsten liegt, mit
uns selbst, den Menschen. Wie geht das zusammen?
Viele,
mit denen ich mich unterhalten habe, interessieren sich für die
Konsequenzen, die meine Ausbildung als Physiker für mein
Schreiben hat. Ein Physiker, so die verbreitete Vorstellung, muß
doch anders schreiben als ein - nun als wer eigentlich? - als ein
Schriftsteller? Schon daß ich überhaupt schreibe, scheint
merkwürdig. Fast nach jeder Lesung werde ich gefragt: Sie sind
doch Physiker, warum schreiben Sie eigentlich? Ich habe mir für
diesen Fall mittlerweile ein paar Formulierungen zugelegt, die, auf
den Punkt gebracht, alle darauf hinauslaufen, daß das eine mit
dem anderen für mich nichts zu tun hat. Aber so einfach ist es
natürlich nicht.
Daß
ich bis heute eine Antwort schuldig geblieben bin, hat verschiedene
Gründe. Zum einen war da ein gewisser Stolz. Ich sah mich die
ersten Schritte auf einem Weg fort von meiner
bürgerlich-vorgezeichneten Existenz und wollte nun nicht gleich
wieder auf diese angesprochen werden. Zum anderen hängt meine
Zurückhaltung einfach damit zusammen, daß ich mir über
das Verhältnis von Literatur und Physik nie Gedanken gemacht
habe, jedenfalls nicht über das gängige Vorurteil hinaus,
daß es sich hier um zweigegensätzliche,wennnichtgarfeindliche
Zugangsweisen zur Welt handelt. Im Grunde habe ich sogar eine Gefahr
für mich darin gesehen, über dieses Verhältnis
nachzudenken. Ich brauchte die strikte Trennung, um überhaupt
zum Schreiben zu kommen. Ich mußte wissen, wo ich nicht sein
wollte, um mich von dort entfernen zu können. Ich brauchte die
Antithese, weil mich jede Konstruktion einer Synthese nur
aufgehalten hätte.
Mittlerweile
hat sich die Lage entspannt, ich habe mir fürs erste ein
schriftstellerisches Terrain abgesteckt, von dem aus ich etwas
gesicherter auf das physikalische blicken kann, und ich möchte
die Gelegenheit nutzen, Ihnen ein paar Eindrücke dessen, was
ich sehe, zu schildern. Ich werde mich also mit dem Verhältnis
zwischen Literatur und Physik beschäftigen, und zwar weniger im
theoretischen, gar philosophischen Sinne, sondern aus der
subjektiven Sicht eines Menschen, der sich in beiden Bereichen
bewegt, in beiden seine Erfahrungen macht. Um es gleich
vorwegzunehmen: Immer, wenn ich im folgenden davon spreche, daß
ich als Physiker gewisse Aspekte der Literatur so und so sehe,
glaube ich nicht, daß ich sie grundsätzlich anders sehen
würde, wenn ich nicht Physiker geworden wäre. Das
Umgekehrte ist der Fall. Weil ich wohl schon immer, wenn auch diffus
und unreflektiert, einen bestimmten Blickwinkel auf die Dinge gehabt
habe, bin ich überhaupt erst zu den Naturwissenschaften
gekommen. Schwieriger ist die Frage, warum ich nicht ausschließlich
dort geblieben bin. Ich weiß es bis heute nicht.
Nach
diesen Vorbemerkungen möchte ich noch einmal zur Eingangsfrage
zurückkehren, der Frage, die nach Lesungen meist die erste, mit
Sicherheit aber die zweite ist: Sie sind doch Physiker, warum
schreiben Sie? Irgendwann ist mir aufgefallen, daß mich noch
nie jemand gefragt hat: Sie sind doch Schriftsteller, warum machen
sie Physik? Es wird häufig darüber geklagt, daß
eigentlich viel zu viele Menschen schreiben, daß wir in einer
literarischen Überflußgesellschaft leben, in der sich
keiner mehr zurechtfindet, daß also Überfluß
durchaus wörtlich verstanden werden muß: Das meiste ist
überflüssig. Offenbar sitzen aber doch nicht so viele an
den Schreibtischen, daß das Verfassen von Texten als etwas so
Alltägliches erscheint wie das Lösen von physikalischen
Gleichungen. Das ist überraschend, denn, egal wieviele den nun
schreiben, es sind mit Sicherheit mehr als Astrophysiker,
möglicherweise sogar mehr als Physiker allgemein. Wenn das
Schreiben derart normal ist, muß etwas anderes hinter der
Irritation über einen schreibenden Physiker stecken, zumal alle
geschrieben haben, Ärzte, Architekten,
Versicherungsangestellte, eine Liste, die sich beliebig fortsetzen
ließe. Die eigentliche Irritation rührt wohl daher, daß
mehrheitlich davon ausgegangen wird, daß die Naturwissenschaft
einerseits und die Literatur andererseits von zwei
grundverschiedenen, ja unvereinbaren Dingen handeln. Genau auf
diesen Antagonismus habe ich ja selbst lange Zeit bestanden: Wenn es
in der Literatur um das Leben in all seinen Facetten geht, dann geht
es in der Naturwissenschaft genau darum nicht. Im Grunde müßte
es jeden Naturwissenschaftler kränken, daß seinem
Berufsstand keine Aussagen mehr zugetraut werden, die irgendetwas
mit dem Leben, wie es die meisten sehen, zu tun haben. Forschung ist
zu einer Klosterdisziplin geworden, die Forscher zu Mönchen,
gerade mal gut zu Orakelsprüchen in Sachen Kraftwerkssicherheit
oder Treibhauseffekt. Für den Alltag sind ihre Erkenntnisse
ebenso wenig von Belang, wie eine päpstliche Enzyklika für
die Ehe.
Aber
warum billigt man den Forschern nicht, oder nur schwerer, das zu,
was, glaubt man den einschlägigen Feuilletons, zum Breitenhobby
geworden ist? So begann Hajo Steinert in der ZEIT seine Kritik über
Freigang mit einem Lamento darüber, daß alle heute Romane
schreiben, Sozialarbeiter, Lehrer, Psychologen. Und etwas später
fährt er fort: "Was erst, wenn ein Astrophysiker zur Feder
greift? Mit größtem Bangen nähern wir uns dem
Freigang, dem Debütroman des Ulrich Woelk." Nun, die Sache
ist in diesem Fall für mich gut ausgegangen. Dennoch hat mich
die Klage darüber, daß Schreiben zum Volkssport geworden
sei, regelmäßig beschäftigt. Im Prinzip läuft
sie auf die Aussage hinaus: Es wird zuviel geschrieben, aber zuwenig
von Wert. Und bei diesem Satz hakt sich gewissermaßen mein
Physikerbewußtsein ein. Der erste Teil der Aussage, es werde
zuviel geschrieben, läßt sich ja möglicherweise noch
anhand der Veröffentlichungszahlen und Buchmessen~ statistiken
objektivieren. Zumindest läßt sich feststellen, wieviel
denn nun veröffentlicht wird, ob das zuviel ist, ist bereits
eine Sache des persönlichen Geschmacks. Noch düsterer
sieht es mit dem zweiten Teil aus: Es werde zuwenig von Wert
geschrieben. Was ist der Wert eines Textes? Wie läßt er
sich messen? Wenn ich mich für den Moment auf den Standpunkt
meines Freigang-Protagonisten Frank Zweig stelle, dann kann ich den
Begriff Wert im Zusammenhang mit Literatur ad acta legen: "Gut?
Schlecht?", notiert Zweig, "Es gibt Unterscheidungen, die
für einen Physiker keine sind, weil die Differenz zwischen
beiden Zuständen keiner objektiven Messung zugänglich ist.
Das Fehlen des Meßwertes ist gleichbedeutend mit dem Fehlen
der Sache." Die Konsequenz dieses Verdikts wäre, Karl May
und Franz Kafka sind objektiv nicht unterscheidbar, höchstens
subjektiv, und das ist für einen Physiker nicht relevant. Der
eine verwandelt sich eben lieber in Old Shatterhand, der andere in
ein Ungeziefer. Obwohl dies offensichtlich Unsinn ist, scheint mir
doch die allerortendiagnostizierteKrisederdeutschen Gegenwartsprosa
in der Frage nach dem Wert von Literatur ihren Ursprung zu haben.
Wenn auch kein Zweifel daran bestehen kann, daß es haushohe
Qualitätsunterschiede zwischen verschiedenen Texten gibt, so
scheint mir doch die Behauptung, es gebe so etwas wie einen Wert von
Literatur, eine der heimtückischsten Fallen für
Schriftsteller. Da der Wert von Literatur nicht objektiv begründbar
ist, wird er normativ bestimmt. Das ist nicht zu ändern. Nur
kommt es mir so vor, daß die Norm derzeit äußerst
unorganisch definiert ist. Sie mißt nach dem
Hopp-oder-Top-Prinzip. Es war vielleicht schon immer der Ehrgeiz des
deutschen Organisationsperfektionismus, bei der Bewertung von Kunst
mit insgesamt zwei Schubladen auszukommen: gut oder schlecht, tief
oder oberflächlich, E oder U. Ich glaube, wenn man sich darauf
als Schriftsteller einläßt, ist man verloren.
Bereits
sehr früh hat mich die E- und U-Etikettierung in der Musik
geärgert, und so sehr ich mich auch angestrengt habe, mein
Geschmack läßt sich bis heute nicht mit solchen
Bewertungskriterien in Einklang bringen. Ich höre Rockmusik und
ich höre Sinfonien, höre Jazz und höre Opern. Auch
wundert es mich, daß in einem der unumstrittensten Denkmäler
der abendländischen Kultur, in der Zauberflöte der Ohrwurm
offenbar erlaubt ist. Niemand hat etwas dagegen, daß Papageno
dort auftreten und unbeschwert: "Der Vogelfänger bin ich
ja, stets lustig, heißa, hoppsasa!" singen darf,
wohingegen bereits die Frage, ob nicht "Nothing compares 2 U"
möglicherweise die sprachlich wie musikalisch zeitgemäße
Übersetzung von "Dies Bildnis ist bezaubernd schön"
ist, als Frevel gilt. Mein Mißtrauen gegen eine E-oder
U-Kategorisierung könnte aber auch eine Folge physikalischen
Denkens sein: Es gibt nun mal keine E- oder U-Physik. Es gibt wohl
Moden in den Naturwissenschaften, mal ist dieses Thema en vogue, mal
jenes. Aber kein Physiker käme auf die Idee, die Beschäftigung
mit Schwarzen Löchern als E-Physik zu bezeichenen und
Beobachtungen von Sonnenfinsternissen als billige U-Spektakel
abzutun.
Allerdings
gibt es die Populärwissenschaft. Diese hat jedoch unter
Naturwissenschaftlern keineswegs das Stigma des Minderwertigen oder
Trivialen. Immer wieder haben hochrangige Physiker versucht, die
Ergebnisse ihrer Überlegungen aus dem Ghetto der Formeln zu
befreien und in eine verständliche Sprache zu übersetzen.
So beginnt Albert Einstein sein Bändchen Über die
spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie mit dem um
jeden Leser werbenden Satz: "Gewiß hast auch du, lieber
Leser, als Knabe oder Mädchen mit dem stolzen Gebäude der
Geometrie Euklids Bekanntschaft gemacht und erinnerst dich
vielleicht mit mehr Achtung als Liebe an den stolzen Bau, auf dessen
hohen Treppen du von gewissenhaften Fachlehrern in ungezählten
Stunden umhergejagt wurdest." Und der Astrophysiker Steven
Hawking schafft es, in seinem Welterfolg Eine kurze Geschichte der
Zeit bereits auf der ersten Seite von der amüsanten Anekdote
über eine ältere Dame, die davon überzeugt ist, daß
die Welt auf einem Turm von Schildkröten ruht, zu so
fundamentalen Fragen zu kommen wie: "Woher kommt das Universum
und wohin entwickelt es sich? Hatte es wirklich einen Anfang? Und
wenn, was geschah davor? Was ist die Zeit?" Kaum ein Physiker
wird solche Schriften als unwesentliches Larifari verdammen. Im
Gegenteil. Abgesehen vom Interesse des Laien, an den Entwicklungen
in der Wissenschaft teilzunehmen, wird es nicht wenige Physiker
geben, bei denen Hawkings Buch auf dem Nachttisch gelandet ist. Man
erfährt dort zwar nichts grundsätzlich Neues, aber ich
glaube, daß gerade darin das Lesevergnügen besteht. Es
macht einfach Spaß, das, was man weiß - zumindest grob,
kaum ein Physiker kennt sich in allen Sparten seiner Wissenschaft
aus -, noch einmal in der Alltagssprache dargestellt zu bekommen.
Der Ernst der Sache verschwindet nicht hinter dem verständlichen
Ausdruck. Ich denke, Vergleichbares gilt für die Literatur. Ich
halte es für einen Irrtum zu glauben, Literatur werde dadurch
spannend, indem sie von etwas Unbekanntem, etwas Neuem berichte. Ich
glaube dagegen, das eigentlich Spannende ist das Bekannte. Man will
nichts Neues erfahren, sondern etwas Altes. Ich will versuchen, dies
genauer zu begründen. Was mich an dem Ruf nach Neuem, nach
steter Innovation prinzipiell mißtrauischmacht,istseineNähezur
Verwertungsgesellschaft. Kaum ein Produkt, das nicht regelmäßig
mit der Banderole "Neu!" verkauft würde. Und waren
Revolutionen früher Sache der Ohnmächtigen, überschwemmt
uns der Spätkapitalismus mit einer Flut von Revolutionen,
revolutionärer Klang, revolutionäre Technik,
revolutionäres Design. Da sollte man mit einem revolutionären
Kunstwerk vorsichtig sein. Manchen gilt Flaubert als der Erfinder
des modernen Romans. Im Grunde ist seine Leistung erstaunlich, denn
aus Biografien läßt sich entnehmen, daß er seinen
nüchternen Realismus eher widerwillig zu Papier gebracht hat.
Offenbar sehnte er sich mehr nach dem Romantischen, dem Erhabenen,
nach der mythischen Üppigkeit Karthargos als nach der
provinziellen Tristesse von Tostes. Daß er trotzdem Madame
Bovary geschrieben hat, macht deutlich, daß literarischen
Verschiebungen in Stil und Inhalt komplexere Prozesse zu Grunde
liegen als nur der Wunsch, neu zu sein. Vielleicht ist es ja
umgekehrt, vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit, die Grammatik der
Moderne zu finden, um so größer, je weniger man nach ihr
sucht. Viele große Entdeckungen in der Physik wurden eher
zufällig, mitunter ebenfalls widerwillig gemacht, sei es die
fehlgeschlagene Suche nach einem alles durchdringenden Medium, dem
Äther, oder Max Plancks Quantenhypothese der Wechselwirkung
zwischen Materie und Strahlung. Ich werde später darauf noch
einmal zurückkommen. So spannend die Änderung
literarischer Formen im Laufe der Zeit auch ist, letztlich glaube
ich nicht, daß die Innovation die Kraft ist, die einen Leser
einem Autor über hunderte von Seiten folgen läßt.
Die Zerfallszeit der Innovation ist eine Generation. Für die
nächste ist das Neue ein alter Hut. Warum wird Flaubert dann
auch heute noch gelesen? Wenn, wie ich es vorhin behauptet habe, das
dominante Kraftfeld eines Buches das Bekannte und nicht das
Unbekannte ist, wäre dies zumindest ein Hinweis darauf, warum
sich Flaubert auch heute noch in den Buchhandlungen findet. An den
Schicksalen, die wir kennen, leiden wir am stärksten mit,
unabhängig davon, wann sie sich ereignet haben. Auch der
Skandal, bis hin zur Gerichtsverhandlung, der dem Erscheinen von
Madame Bovary folgte, ging nicht darum, daß Flaubert die
Erzähltechnik revolutioniert hat, sondern er wurde wegen
Verstoßes gegen Moral und Religion angeklagt. Das heißt
aber nichts anderes, als daß er die Frechheit hatte, etwas
auszusprechen, was alle wußten. Der Untertitel des Buches
lautet: Sitten der Provinz. In jedem Dorf kennt jeder die jeweiligen
Sitten, aber wer sie ausspricht, wird ausgestoßen.