Das
Rätsel des Opfers
Science-Fiction
ohne Plot
Erschienen
in der Süddeutschen Zeitung vom 21. März 2001
Schlägt
man im fünfbändigen Brockhaus, in der Ausgabe des Jahres
2000, den Begriff Zukunft nach, so findet man als Eintrag genau eine
Zeile: "Zukunft, Sprachwissenschaft, eine Zeitform des Verbs,
siehe Futur." Der Verweis auf den lateinischen Eintrag liefert
alsdann eine grammatikalische Erläuterung der Futurbildung in
der deutschen Sprache mit den zugehörigen Hilfsverben und einer
Reihe von Beispielen wie: "Ich werde arbeiten." Als
Entfaltungsraum der Fantasie oder als Projektionsfläche für
individuelle oder kollektive Welt- und Lebensentwürfe kommt die
Zukunft im fünfbändigen Brockhaus nicht vor.
Man
mag die Definition der Zukunft als ausschließlich
grammatikalisches Phänomen für eine unbedeutende
Nachlässigkeit oder das bloße Versehen einer
überarbeiteten Wörterbuch-Redaktion halten, eine
lexikographische Skurrilität also, doch ebenso gut kann man
mehr hineindeuten. Beispielsweise könnte man sich fragen, ob
nach dem historischen Kollaps der großen Ideologien und
Gesellschaftsentwürfe die Zukunft als Ganzes womöglich
ausgedient hat; ob es sich nach dem zeitweilig verkündeten Ende
der Geschichte überhaupt noch lohnt, ein Wort über sie zu
verlieren.
Inzwischen
liegen die Dinge schon wieder anders. Vom Ende der Geschichte kann
keine Rede mehr sein, im Gegenteil: Wir scheinen wir uns in einem
historischen Wandel zu befinden, der von vielen als unkontrollierbar
oder als bereits außer Kontrolle geraten empfunden wird. Die
Menschheit, so die Befürchtungen, werde schon bald den Weg der
biotechnischen Auf- und Umrüstung einschlagen. Man werde
Computerchips zur Verbesserung kognitiver und intellektueller
Leistungen in die Gehirne implantieren, Miniroboter darauf
programmieren, in unseren Körpern medizinische
Routinereparaturen auszuführen, die vermeintliche Optimierung
des genetischen Codes vorantreiben, und schließlich, so die
kühnsten Spekulationen, werde die Menschheit ganz in der
digitalen Welt aufgehen als Gesellschaft aus virtuellen
Software-Wesen, die sich von der störanfälligen Hardware
der Körper befreit haben ...
Das
Szenario, so phantastisch es auch anmutet, macht zunächst
einmal eines deutlich: Waren zu früheren Zeiten die Propheten
in gewissem Sinne Leser, denen zugetraut wurde, aus dem Vogelflug,
den Sternen oder anderen zeichenartigen Aspekten der Realität
das Kommende herauszufiltern, so sind es heutzutage
Naturwissenschafter. Auf weltweit für Aufsehen sorgenden
Pressekonferenzen verkünden sie jene Durchbrüche, von
denen es heißt, daß sie das Schicksal der Menschheit
bestimmen.
An
die Stelle des lesenden Voraussehens ist das Berechnen der Zukunft
getreten, und hinter diesem Wechsel der Methode verbirgt sich mehr
als eine Kompetenzverlagerung von der einen zur anderen
Expertenkaste. Ob die Zukunft aus einer Gleichung oder einem Text
hervorgeht, oder anders gesagt: ob die Deutungshoheit über das
Kommende Naturwissenschaftler oder Literaten haben, weist der
Zukunft einen anderen Grad von Zwangsläufigkeit zu. Der
naturwissenschaftliche Determinismus ist mit dem Fatum oder der
göttlichen Schickung insofern nicht zu vergleichen ist, als
hinter seiner Mechanik kein Wille steht. Es gibt keine Instanz gegen
die das Individuum, vom Schicksal getroffen, rebellieren oder
zumindest Klage erheben könnte. Der physikalische Kosmos ist
gegenüber dem Leid des einzelnen skandalös gleichgültig.
Wenn
man sich sowohl in der Welt der Literatur als auch in der der
Naturwissenschaft bewegt, stellt man zunächst einmal fest, daß
man in beiden über die jeweils andere nicht sehr viel weiß.
Naturwissenschaftler halten Literaten in der Regel für unnötig
kompliziert, und Literaten Naturwissenschaftler für
intellektuell primitiv. Eine der Fragen, mit der man als
naturwissenschaftlich ausgebildeter Schriftsteller folglich
besonders häufig konfrontiert wird, ist die nach der
angenommenen Unvereinbarkeit der beiden Beschreibungsansätze
von Welt: Wie kommt ein Wissenschaftler dazu, literarisch zu
erzählen? Von den meisten wird es als Widerspruch empfunden,
sich der Welt mit den Mitteln der Sprache oder denen der Mathematik
zu nähern.
Im
Grunde ist der Automatismus, mit dem die Literatur der Sphäre
der Geisteswissenschaften zugeschlagen wird, erstaunlich. Erzähler
betreiben ja zunächst einmal keine Wissenschaft, sondern
bringen mit ihren Texten etwas hervor, was der wissenschaftlichen
Analyse zugänglich ist. Dennoch wäre es naiv, jene von der
Sache her nicht zwingend gebotene, aber de facto bestehende Nähe
zwischen Literatur und Geisteswissenschaften zu leugnen. Es gibt
eine Menge Schriftsteller, die sich textkritisch zu äußern
wissen, und nur wenige, die etwas von Quantenmechanik verstehen.
Charles P. Snows These von den "zwei Kulturen" trifft wohl
- aller Versuche einer gegenseitigen Annäherung zum Trotz -
nach wie vor zu.
Vermutlich
aus diesem Grund wirkt die durch die Kartierung des menschlichen
Erbgutes und die digitale Revolution ausgelöste Zukunfts- und
Cyberdebatte im vorherrschend geisteswissenschaftlich geprägten
Diskussionsklima hierzulande seltsam deplaciert. Zum einen setzen
Begrifflichkeiten wie neuronales Netz, genetischer Code oder
Nanosonden ein Expertenwissen voraus, das nur wenigen zur Verfügung
steht. Zum anderen ist historisch desavouiert, worum es bei der
Analyse des menschlichen Genoms ganz unverhohlen geht: Um die
Verbesserung des Menschen durch den Menschen. Genetische
Manipulation und Nanotechnologie sollen die evolutionäre
Kompromißkonstruktion Homo auf Vordermann bringen.
Der
Ursprung der biodigitalen Gedankenspiele liegt bereits in den
fünfziger Jahren, als man zu vermuten begann, intelligentes
Handeln könne begriffen werden als automatische Abfolge von
Programmschritten einer neuronalen Software und müsse somit
auch künstlich herzustellen sein. Allerdings fehlten
leistungsfähige Computer, die in der Lage gewesen wären,
eine so weitreichende These zu überprüfen. Die Entdeckung
der Doppelhelix-Struktur der DNS durch Watson und Crick war
meilenweit entfernt von dem, was man heute unter genetic engineering
versteht, und die Idee einer Nanotechnologie war noch nicht einmal
geboren. Dennoch rissen die Forschungen auf dem Gebiet der
künstlichen Intelligenz (KI) in den USA nie ab. Marvin Minsky,
einer der KI-Pioniere, beschäftigte sich in den sechziger
Jahren am Massachusetts Institute of Technology mit der Intelligenz
von Maschinen und den materiellen Grundlagen des Bewusstseins; und
ohne dass es von irgendeiner Seite moniert worden wäre, schrieb
der amerikanische Mathematiker Douglas Hofstadter zu Beginn der
achtziger Jahre in seinem universalen Logik-Kompendium "Gödel
Escher Bach": "Sich-bewusst-sein ist eine unmittelbare
Auswirkung des Komplexes Hardware und Software, wie wir ihn
beschrieben haben ... nämlich als Überwachung einer
gedanklichen Tätigkeit eines Teilsystems durch das Gehirn
selbst ... Zum Beispiel ist es ganz einleuchtend, dass ein so
strukturiertes Computerprogramm Aussagen über sich selbst
machen würde, die den Aussagen, die Menschen gemeinhin über
sich selbst machen, sehr ähnlich wären."
Dass
die futuristische Behauptung, Menschen könnten als
Computerprogramme, als Software simuliert werden, nun auf einmal
feuilletonistischen Sprengstoff birgt, ist bemerkenswert. Offenbar
ist es die allmähliche Annäherung zwischen Theorie und
Praxis, die das Unbehagen schürt. Alle 18 Monate verdoppelt
sich die Rechenleistung der Computer, und zugleich rückt die
Umprogrammierung des humangenetischen Codes im Rahmen des genetic
engineering in den Bereich des Möglichen. Allerdings haftet der
Debatte wegen des uneinholbaren informativen Vorsprungs der
Naturwissenschaften etwas seltsam Defensives an. Einfach
ausgedrückt: Wie über Dinge reden, von denen man nichts
versteht?
Ob
die Literatur in der Lage wäre, sich vermittelnd zwischen den
beiden "Kulturen" zu positionieren, ist fraglich.
Spekulationen wie die Minskys oder Hofstadters bleiben in ihrer
literarischen Auswertung dem Science-Fiction-Genre vorbehalten, und
dessen feuilletonistische Hoffähigkeit leidet an der nach wie
vor recht deutlichen Trennung zwischen Hoch- und Trivialliteratur.
Zwar wird auch dem Unterhaltungssektor mittlerweile eine gewisse
Seriosität nicht mehr abgesprochen, aber so recht von Herzen,
hat man den Eindruck, kommt dieses Zugeständnis nicht. Es wirkt
zumeist ein wenig unfreiwillig, denn SF-Texte sind in aller Regeln
nicht komplex codiert, und bevor sich eine historisch-kritische
Analyse lohnt, sind sie auch schon überholt. Dabei war ein Buch
wie William Gibsons Cyber-Märchen "Newromancer"
vermutlich wirkungsmächtiger als der überwiegende Teil
literarisch anspruchsvoller Prosa zur gleichen Zeit.
Im
Grunde erweist sich die Sehnsucht nach einer biodigitalen Aufrüstung
des Menschen mit dem Fernziel einer Überwindung seiner
Hardware-Unzulänglichkeiten durch eine Transformation seines
Bewusstseins in reine Netz-Software als eschatologisches Programm.
Die mythisch-religiösen Anleihen sind unüberhörbar:
Überwindung des irdisch-materiellen Seins und Erlangung
geistiger Unsterblichkeit. Die Realität bietet keine neuen
Räume mehr, das gelobte Land ist virtuell, der Cyberspace ist
der Ort der digitalen Erlösung.
Während
derartige Szenarien hierzulande nicht selten auf blankes Entsetzen
stoßen, sind die Reaktionen andernorts gelassener. Über
Ray Kurzweils Buch "The Age of Spiritual Machines" (auf
Deutsch "Homo S@piens"), in dem vor zwei Jahren das
baldige Ende unserer Art in ihrer herkömmlichen, biologischen
Form verkündet wurde, hieß es in der US-amerikanischen
Kritik: "It´s a sience fiction without a plot."
Kurzweil
ist nicht der einzige Softwareingenieur, der in den USA seiner
technologischen Fantasie freien Lauf lässt, sondern gehört
zu einer bunten Szene von selbsterklärten Futurologen, die man
cum grano salis als seriöse Spinner charakterisieren könnte.
Im Unterschied zu den USA gibt es hierzulande keine Tradition
hemmungslosen Vorwärtsdenkens. Dabei ist die intellektuelle
Pointe gelungener Science-Fiction ja, daß es in ihr nicht
eigentlich um die Zukunft geht, sondern um die Gegenwart. Der neue
Mensch erweist sich im Zukunftsdiskurs nur als Spiegelung des alten.
Im
Grunde bemühen sich Naturwissenschaften und Literatur von
alters her um die Klärung derselben schlichten Frage: Was ist
der Mensch, und wie ist seine Stellung im Gesamtzusammenhang der
Dinge? So unterschiedlich der Begriff von Zwangsläufigkeit in
beiden Gebieten auch sein mag, so fällt doch auf, mit welcher
geradezu naturwissenschaftlich anmutenden Präzision manche der
klassischen Dramen abzulaufen scheinen. Alle Beteiligten sind, wie
sie sind, verfolgen ihre eigensinnigen Ziele, und am Ende kommt es
zur Katastrophe, zum Zerspringen des dramatischen Tableaus. Vom
Fundament her gesehen, scheint die Literatur also nicht weniger mit
den Natur- wie mit den Geisteswissenschaften gemeinsam zu haben. Ob
dies allerdings eines Tages dazu führen wird, daß sich
die aktuellen Distanzverhältnisse nachhaltig ändern, ist
unwahrscheinlich. Die Barriere der Mathematizität, die
beispielsweise die Physik umgibt, wird auf lange Sicht nur von einer
Minderheit zu überwinden sein.
Es
ist bis heute ein Geheimnis, was den Menschen zum Menschen macht.
Genetisch gleicht unsere Spezies zu 94 Prozent dem Pavian und zu 98
Prozent dem Schimpansen, dessen nächste Verwandte mithin nicht
etwa die Gorillas sind, sondern wir. Auf der Ebene der Gene kehrt
damit das alte Dilemma eines mechanistischen Weltbildes und der
damit verbundenen Zwangsläufigkeit zurück: Wenn Menschen
nur aus Materie bestehen, die den physikalischen Gesetzmäßigkeiten
unterliegt, dann ist auch alles, was Menschen aus einem vermeintlich
freien Willen heraus tun, nur ein Ausdruck dieser Gesetze.
Eine
Auflösung dieses Dilemmas ist weder in den Natur- noch in den
Geisteswissenschaften möglich. Wir halten uns für frei und
sind in Wirklichkeit nur die Marionetten universaler Kräfte.
Vielleicht ist ja das Erzählen von Geschichten das einzig
wirksame Mittel, damit fertig zu werden.