Das
Rätsel des Opfers
Liebe
erschienen
in der ZEIT vom 1.7.1999
Ein
Schiff, ein Paar, eine Katastrophe. Offenbar sind manche Geschichten
mit wenigen Strichen so deutlich skizziert, daß jeder auf der
Stelle meint, sie zu erkennen. Wer mit dem abendländischen
Mythenvorrat einigermaßen vertraut ist, wird jedenfalls nicht
lange zögern, den drei Motiven einen Stoff zuzuordnen. Keine
Frage, es kann nur jene berühmte Dichtung Gottfried von
Straßburgs gemeint sein, zu der Richard Wagner eine Musik mit
ziemlich unkalkulierbaren Risiken und Nebenwirkungen geschrieben
hat:Tristan.
Jack
und Rose heißt jenes von Leonardo DiCaprio und Kate Winslet
gespielte Liebespaar, das im vergangenen Jahr allein in Deutschland
18 Millionen Zuschauer in die Kinos zu locken vermochte und Titanic
damit zum erfolgreichsten Kinofilm aller Zeiten gemacht hat. Ihre
Liebe zerrinnt nicht in den Tümpeln des Alltäglichen oder
wird durch langjährige Gewöhnung verwässert - nein,
denn kaum ist sie erblüht, wird sie auch schon in den Abgrund
einer Katastrophe gerissen, die ihresgleichen sucht. Nimmt man die
pure Dimension des technischen Desasters, in dem sie untergeht, zum
Maßstab, dann hat der Mythos der Liebe seit den Zeiten eines
Gottfried von Straßburg nicht viel von seiner Kraft eingebüßt.
Aber
was hilft das denen, die noch nicht im Strudel der Liebe ertrunken
sind? Egal, ob in der Oper oder im Kino - die Liebe, um die es auf
weit entfernten Bühnen oder hoch oben schwebenden Leinwänden
geht, ist immer ein paar Nummern zu groß für uns, die wir
im Parkett sitzen. "Sind´s deiner Seufzer Wehen, die mir
die Segel blähen?" singt melancholisch ein Seemann im
Tristan, und wir da unten halten die Tempotaschentücher bereit,
die kleinen Segel unserer kleinen Gewässer.
Dabei
sind wir doch besser mit emotionalem Know-how ausgestattet als jede
Generation vor uns. Groß geworden mit humanistischen Werten,
die selbst doch irgendwie Kinder der Liebe sind, haben wir uns in
den gemäßigten Breiten spätbürgerlicher
Lebensentwürfe kommod eingerichtet. Gleichberechtigung und
gegenseitiges Verstehen sollen das Verhältnis zwischen den
Geschlechtern prägen, und im Schutze des Gut-gemeint-Seins
dieser Ideale haben sich Formen des Zusammenlebens herausgebildet,
die sogar halbwegs funktionieren, zu unserem Leidwesen aber doch
seltsam unbefriedigend bleiben. Gebettet in eine ungefährliche
Liebeswirklichkeit aus Beziehungen und Partnerschaften, seriellen
Monogamien und wilden Ehen, die, so ist zu befürchten, nie wild
waren, macht sich am Ende des Jahrhunderts bei vielen offenbar eine
gewisse emotionale Ratlosigkeit breit. Wenn der verwegenste Ausdruck
der Leidenschaft der One-night-stand ist, wird die ursprüngliche,
die bedingungslose und irrationale, die ungleichberechtigte und
hingebende Liebe zum letzten verbliebenen Abenteuer.
Der
französische Schriftsteller und Philosoph Denis de Rougement
hat in seinem 1938 erschienen Buch Die Liebe und das Abendland
geschrieben: "Das ist der große Fund der Dichter Europas,
das, was sie vor allem in der Weltliteratur auszeichnet, was am
tiefsten die Besessenheit des Europäers zum Ausdruck bringt:
Erkenntnis durch den Schmerz hindurch, das ist das Geheimnis des
Tristanmythos, die leidenschaftliche Liebe, die zugleich geteilt und
bekämpft wird, die um ein Glück bangt, das sie
zurückstößt, die in ihrer Katastrophe verherrlicht
wird - die gegenseitige unglückliche Liebe."
Lieber
unglücklich lieben als gar nicht? Die Liebe von Jack und Rose
ist nicht unglücklich, sondern wird von einem Unglück
heimgesucht. Bei Wagner hingegen ist es kein Eisberg, der sich den
Liebenden in den Weg stellt, während sie ihrem Unglück
entgegensegeln, die Katastrophe ist vielmehr die Liebe selbst, womit
sich - wenig verwunderlich - der Tristan als das sublimere und
psychologisch genauere Werk erweist als James Camerons
Vier-Stunden-Epos. Zwar garnieren sowohl Cameron als auch Wagner
ihre Geschichten mit allerlei gesellschaftlichen Drumherum - Jack
und Rose müssen sich über die festgefügten
Klassenschranken ihrer Zeit hinwegsetzen, und Tristan und Isolde
sind von einem Netzwerk aus höfischen Intrigen umgeben - aber
nur bei Wagner, dessen Tristan-Musik einem fließenden
Nacheinander von mehr oder minder entrückten Rauschzuständen
gleicht, wird deutlich, was Denis de Rougement in seiner Analyse des
abendländischen Liebesmythos immer wieder betont: Letztlich ist
es das Scheitern der Liebe an sich selbst, an ihrem eigenen
Absolutheitsanspruch, das ihren mal heroischen, mal morbiden
Charakter ausmacht. Es ist nicht der große Ozeandampfer
Gesellschaft, der die Liebenden mit sich in die Tiefe reißt,
sie ertrinken vielmehr im jeweils anderen und damit zugleich in sich
selbst; sie ertrinken in dem berauschenden Bewußtsein zu
lieben.
Ebenso
sehr ich- wie dubezogen, ist Liebe zugleich aufklärerisch und
archaisch: höchster Ausdruck individueller Freiheit sowie
Inbegriff der Selbstaufgabe, der bedingungslosen Überantwortung
des Ichs an ein anderes Wesen. - Das ist es wohl, weshalb auch die
postmoderne Waren- und Individualgesellschaft von der Liebe nicht
lassen kann, weswegen nach allen Dekonstruktionen, dem Zerfall von
Wirklichkeit zur medialen Anarchie und der fortschreitenden
Virtualisierung von Erfahrung der Mythos der reinen, ganz und gar
ursprünglichen Liebe mit Macht zurückkehrt.
Sogar
die Sexualität scheint vor ihrem archaischen Hintergrund zu
verblassen. Gemessen an einer Gegenwart, die vor erotischen Chiffren
nur so platzt, gebärden sich Jack und Rose insgesamt eher
keusch. Statt neuneinhalb Wochen bleiben ihnen nur neuneinhalb
Stunden. Wohl dürfen sie - in dieser Hinsicht ihrer Zeit eher
voraus - auf der Rückbank eines Autos zueinanderfinden, aber
der erotische Höhepunkt ihres kurzen Liebeslebens ist eine
berührungsfreie Aktsitzung, in der sich der junge Künstler
Jack - auch in diesem Punkt auf den Pfaden bewährter Mythen
wandelnd - den Gegenstand seiner Liebe erst einmal selbst erschafft.
In
einer Welt, die von Tag zu Tag unübersichtlicher zu werden
scheint, kann die Kraft des Liebesmythos nur wachsen. Er verspricht
Rettung aus dem alten Dilemma, daß die Kulissen der Moderne
jede ursprüngliche Erfahrung verstellen. Die Liebe soll die
Liebenden zurückversetzen in ein unmittelbares Dasein, das vor
jeder Erfahrung liegt, in einen Urzustand, eine emotionale
Singularität.
Liebe
ist immer ein Roman, eine Oper, ein Film, denn bevor sie beginnt,
geht in den Köpfen das Licht aus. Mythen sind scheu, sie trauen
sich erst in der Dämmerung hervor. Dann aber leuchten sie um so
heller, und auf einmal ist der Ozean real, auf einmal lösen
sich die Leinen. Es gibt Träume, die träumt man immer
wieder. Ein Schiff, ein Paar, eine Katastrophe ..