Das
Rätsel des Opfers
Dieses Verhaltensmuster findet sich in der
Wissenschaftsgeschichte wieder. Einer der größten
Physiker war Galileo Galilei, und auch er mußte sich vor
Gericht verantworten. Galilei wird der berühmte Satz: Und sie
bewegt sich doch!, in den Mund gelegt, gemeint war die Erde, die
laut kirchlicher Lehre im Mittelpunkt des Weltalls zu ruhen hatte.
Durch die Größe Galileis wird manchmal übersehen,
daß gar nicht er es war, der die Erde aus dem Mittelpunkt des
Universums auf einen Zaunplatz gerückt hat. Diese Idee gab es
bereits im Altertum. Sie wurde von Nikolaus Kopernikus Anfang des
sechzehnten Jahrhunderts aufgenommen, weil er erkannte, daß
ein heliozentrisches Weltbild für die Voraussage der
Planetenstellungen wesentlich besser geeignet war, als die
komplizierten Rechnungen, die das geozentrische notwendig machte. Er
veröffentlichte seine Thesen vorsichtigerweise erst kurz vor
seinem Tod. 1616 kam sein Hauptwerk auf der kirchlichen Index.
Johannes Kepler gelang es dann Anfang des siebzehnten Jahrhunderts
anhand der Beobachtungen Tycho Brahes, die Planetenbewegungen durch
drei simple mathematische Gesetze zu beschreiben. Aufgrund seiner
großen Einfachheit, wurde das heliozentrische Weltbild schon
vor Galilei von den Seeleuten zur Navigation benutzt, ohne daß
sie mit der Inquisition Schwierigkeiten bekommen hätten. Sie
legten sich mit der offiziellen kirchlichen Lehre nicht an. Aus
naturwissenschaftlicher Sicht ein klassischer Fall von Doppelmoral.
Galileis Vergehen war, daß er die Frechheit hatte, das
auszusprechen, was bekannt war.
Heute
liegen die Dinge anders. Wir leben in einer Zeit, die durch den
medialen Mythos der Bekanntmachung von allem geprägt ist. Der
gläserne Politiker, die gläsernen Katastrophen, der
gläserne Mensch, mikroskopisch sondiert durch Meinungsbilder
und Statistiken über Eß- und Trinkgewohnheiten bis hin
zum Sexualverhalten. Der Tabubruch, vor zwanzig Jahren noch Mittel
zur Erosion bürgerlicher Verkrustungen, ist längst als
effizienter Köder im Kampf um Einschaltquoten nutzbar gemacht.
Der Schriftsteller, der in dieser Situation nach dem Unbekannten,
dem Neuen, der noch nicht aufgedeckten Lüge sucht, hat keine
Chance. Man könnte noch die Grundlüge, daß das
mediale Aufdecken von Lügen selbst wiederum Lüge ist,
angreifen, aber diese Metaenthüllung is ja auch längst
wohlfeiler Bestandteil im Sortiment zeitkritischer Reflexionen. Die
Aufklärung hat ihren Endpunkt in einem Autoaufkleber gefunden:
Alles Lüge. Und auch die in zweieinhalb Jahrtausenden
entwickelte Dramaturgie des tragischen Konflikts, für den es
keine Lösung gibt, weil alle gleichermaßen im Recht wie
im Unrecht sind, findet sich, wenn auch in trivialisierter Form und
mit fauligen Lösungen versehen, noch in jeder soap opera
wieder. In dieser Situation muß die Frage gestellt werden, ob
nicht in der Kunst, in der Literatur ein radikale Suche nach einer
neuen Form und Ästhetik stattfinden muß, anstatt die auf
dem Strich gelandete klassische Dramaturgie ab und an notdürftig
zu verarzten und mit ein paar Stärkungsmitteln einen blassen
Schimmer ihrer früheren Schönheit wieder herzustellen. Wo
soll die Suche nach Neuem denn stattfinden, wenn nicht in der Kunst,
in der sich noch am ehesten von kommerziellen Interessen freie
Nischen, zumindest zeitweise, schaffen lassen? Die Suche nach dem
Unbekannten hat sich im vergangenen Jahrzehnt ins Innere gewendet,
in die Totalreflektion der Welt im Gehirn, in das selbstbezügliche
Kreisen der Motive unter den eigenbestimmten Kräften einer
autonomen Gravitation. So wird in der aktuellen Ausgabe von
Konzepte, einem Magazin, das sich intensiv und ausschließlich
der jungen und jüngsten deutschen Literatur
verschriebenhat,eineUmfrageunter Schriftstellern zum Thema Literatur
am Ende der Politik veröffentlicht. In der Fragestellung heißt
es, daß sich in den achtziger Jahren "...im Zusammenhang
mit einer sprach- und zeichenkritischen Literatur eine 'Poetologie'
der selbstreferentiellen Schleifen durchgesetzt (hat), in denen
Literatur und Sprache zum wichtigsten und oft einzigen Thema
geworden sind." Der Schriftsteller wendet sich von der
gläsernen Welt ab und flüchtet sich in das vermeintlich
letzte verbliebene Dunkel, sein Innerstes.
Ich
glaube, der Rückzug ins Innere, in die Selbstreferenz ist
schlicht unnötig. Es ist der Rückzug vor einem Gegner, den
es gar nicht gibt, ist die Preisgabe von Terrain, das von niemandem
beansprucht wird. Die Medien stehen unter dem Zwang zur
Generalbekanntmachung. Aber, ich denke dies ist in den vergangenen
Jahren deutlich geworden, wer alles bekannt macht, macht nichts
bekannt. Wer alles zeigt, zeigt nichts. Nacktheit ist langweilig.
Trotzdem
stellt sich die Frage, ob denn heute eine Erzählung ohne den
Rückbezug zum Autor auskommen kann. Reicht es, zwei Menschen
miteinander reden zu lassen,beziehungsweise aneinander vorbei reden
zu lassen,weil bei jedem nur das ankommt, was in sein System paßt,
und nicht das, was der andere gemeint hat. Ist es nicht notwendig,
die Bedingungen des Scheiterns jeder Kommunikation
mitzureflektieren? Und nicht nur das. Hat der Leser nicht einen
Anspruch darauf, die Bedingungen der Reflexion selbst, also die
Tatsache, daß da jemand am Schreibtisch sitzt und über
das Scheitern jedweder Kommunikation nachdenkt, ebenfalls
mitreflektiert zu bekommen?
Literatur
war immer Täuschung und ist es noch. Die Grundverabredung war
und ist die Fiktion. Autor und Leser machen in ihrem wechselseitigen
Betrug gemeinsame Sache. In diesem Verhältnis hat sich
allerdings, folgt man der Theorie der Postmoderne, der Leser
mittlerweile weitgehend emanzipiert. So faßt der
Literaturwissenschaftler Paul Michael Lützeler in einem Aufsatz
über Postmoderne Strukturen in der Erzählliteratur der
Gegenwart die Thesen Roland Barthes folgendermaßen zusammen:
"Nicht der Autor, sondern der Leser sei die einheitsstiftende
Instanz bei der Schaffung des literarischen Textes: Der wahre Ort
des Schreibens sei das Lesen, denn es sei der Leser, der das Spiel
der Codes und der Bedeutungen in Gang bringe." Ein Autor, der
an diesem Konzept vorbei die Welt in Geschichten verwandelt, gleicht
einem in Rente geschickten Magier. Kaninchen werden nur noch in der
Kinderstunde aus dem Hut gezaubert.
Das
sicher komplizierter gewordene Verhältnis zwischen Autor und
Leser erinnert mich an die Entwicklungen in der Physik am Anfang
dieses Jahrhunderts. Damals beschäftigte sich Max Planck mit
dem Problem des Hohlraumstrahlers, einem schwarzen Kasten mit einem
kleinen Löchlein, den man auf eine bestimmte Temperatur
erhitzt. Man hatte die aus dem Löchlein dringende Strahlung
nach ihrem Energieinhalt vermessen, allerdings war es nicht
gelungen, das Ergebnis mit den bestehenden physikalischen Gesetzen
in Einklang zu bringen. Planck nahm nun an, daß die
Wechselwirkung zwischen Materie und Strahlung nicht kontinuierlich,
sondern in kleinen Energiepaketen, in Quanten stattfand. Mit dieser
Annahme konnte er den experimentellen Befund erklären. Er
traute seinem Ergebnis jedoch nicht und glaubte einige Jahre, daß
der sprunghafte Energieaustausch zwischen Materie und Strahlung
lediglich eine Nothypothese sei, in der sich das noch fehlende
genaue Verständnis der zu Grunde liegenden physikalischen
Prozesse manifestiere. Darin irrte er, seine Nothypothese entpuppte
sich als Geburtsstunde der Quantenmechanik, einer der
erfolgreichsten physikalischen Theorien überhaupt. Ihre
Weiterentwicklung führte Werner Heisenberg in den zwanziger
Jahren zur Formulierung der nach ihm benannten Unschärferelation.
Die Frage, wie diese zu interpretieren sei, spaltete die Physiker.
Einstein lehnte eine probabilistische Deutung der Quantenmechanik
ab, die sich allerdings heute allgemein durchgesetzt hat.
So
schwierig eine Interpretation der Unschärferelation ist, man
kann sie so auffassen, daß es nicht möglich ist, eine
Beobachtung vom Beobachter zu trennen. Je nachdem, was man
beobachten will, erhält man ein bestimmtes Ergebnis, und über
das, was man gleichzeitig nicht beobachtet hat, kann man keine
Aussage machen. Die Theorien beschreiben nicht mehr eine vom
Beobachter isoliert existierende Natur, sondern das Verhältnis
zwischen beiden. Physiker und Welt sind in eine wechselseitige
Abhängigkeit geraten. In derselben Abhängigkeit befinden
sich auch Autor und Leser. Hinter dieses Wissen können wir
nicht zurück. So notwendig also eine Entmystifizierung, eine
Enttarnung des Autors ist, man kann derzeit an dem Befund nicht
vorbei, daß der Leser dem Autor diese Öffnung der
Literatur nicht dankt. Stark reflexionsbetonte Bücher sind
trotz einer teils hohen Sprachästhetik kaum verkäuflich.
Ich kann mir dafür mehrere Gründe vorstellen. Zum einen
gibt es die Möglichkeit, daß "der Leser" noch
nicht soweit ist. Ich mag diese Art der Schuldzuweisung nicht, weil
sie doch wieder das alte hierarchische Verhältnis zwischen
Autor und Leser installiert. Der Leser ist halt zu dumm. Eine andere
Erklärung deutet sich in der erwähnten Konzepte-Umfrage
an. Dort hießes,daßdie "selbstreferentiellen
Schleifen...zum wichtigsten und oft einzigen Thema geworden sind."
So wichtig die Enttarnung der Autorenschaft sein mag, als
ausschließliches literarisches Thema ist sie möglicherweise
nicht trag- und lebensfähig.
Eine
dritte Erklärung könnte sein, daß in der Offenlegung
schriftstellerischer Arbeitsprozesse und ihres Verhältnisses
zum Leser einfach zuviel des Guten getan wird. Die Wechselwirkung
zwischen Beobachter und Welt ist sicher kompliziert, aber sie muß
nicht unentwirrbar sein, nicht vollständig jedenfalls. Durch
immer neue Verästelungen und Verfeinerungen der
Reflexionsebenen fühlt sich der Leser offenbar weniger an die
Komplexität des Lebens erinnert als vielmehr an die
disziplinierenden Konzentrationsübungen mönchischer
Exerzitien. "Etwas puritanistisch Strenges" wirft Bodo
Kirchhoff der neueren Literatur in einem Interview mit der Neuen
Rundschau vor. "Literatur", schimpft er, "die so
kryptisch, so privat ist, daß nur die Trüffelschweine bis
zum Ende vordringen." Auch ich frage mich hin und wieder, ob
denn wirklich alles so kompliziert sein muß? Das Erstaunliche
an der Heisenbergschen Unschärferelation ist ihre geradezu
lakonische Einfachheit. Kein verschachteltes Formelmonster, sondern
drei Größen, mit einer Grundrechenart und einem
Größer-als-Zeichen verknüpft. Gerade die Forderung
nach Einfachheit ist es oft gewesen, die die Physiker auf ihrer
Suche nach den richtigen Modellen geleitet hat. Die Keplerschen
Gesetze sind ungleich einfacher als die vertrakten Rechnungen, die
das Ptolomäische Weltbild nötig machte. Das Newtonsche
Gravitationsgesetz, das die drei Kepler-Formeln erklärt, ist
noch einfacher und beschreibt nicht nur die Planetenbewegung,
sondern alle Phänomene des Freien Falls von der vom Tisch
rutschenden Tasse bis hin zur Rotation unserer Galaxie um ihr
Zentrum. Um den letzten Punkt gibt es derzeit eine interessante
Kontroverse, die in der Lage ist, das Verhältnis zwischen
Einfachheit und Komplexität in der Physik zu illustrieren.
Messungen haben ergeben, daß die Sterne am Rande der Galaxien
schneller um deren Mittelpunkt kreisen, als es das Newtonsche Gesetz
voraussagt. Zwei Erklärungen werden diskutiert. Die eine nimmt
an, daß das Gravitationsgesetz auf große Distanzen
falsch ist, die andere geht von dessen universeller Gültigkeit
aus und nimmt an, daß es in den Galaxien dunkle und daher noch
nicht beobachtete Materie gibt, die aufgrund ihrer eigenen
Gravitation die Randsterne gewissermaßen beschleunigt. Die
überwiegende Mehrheit der Astrophysiker neigt zur zweiten
Hypothese, weil ein komplizierteres Gravitationsgesetz die Ästhetik
der Einfachheit, die sich so oft bewährt hat, zerstören
würde. Diese Einfachheit bedeutet aber keineswegs einen Verlust
an strukturellem Reichtum. Im Gegenteil. Es ist ein wesentlich
vielschichtigeres Problem, die dunkle Materie aufzuspüren, als
im Handstreich eine Formel zu ändern. Einfachheit und
Komplexität schließen sich in der Physik nicht aus. Die
komplexe Oberfläche hat eine einfache Wurzel. Das Bestreben des
Physikers ist es, diese Wurzel zu benennen. Darum kann es in der
Literatur nicht gehen. Aber die Differenz zwischen Einfachheit und
Komplexität scheint mir ein entscheidendes Element
erzählerischer Spannung zu sein. Die Dinge sind fürchterlich
kompliziert, und doch ahnt man, daß im Grunde alles ganz
einfach ist, wenn es nicht so kompliziert wäre. Die Ahnung von
der Einfachheit und die Suche danach sind ein beständig
arbeitender Handlungsmotor. Das bürgerliche Lebensmodell, die
geregelten Verhältnisse lassen sich in diesem Spannungsfeld
interpretieren, aber auch der Ausbruch daraus, der Wunsch alles
hinter sich zu lassen, abzuhauen. Der Selbstmord Werthers, die
Hoffnung des Landvermessers K., ins Schloß vorgelassen zu
werden, oder auch Walter Fabers Fahrt durch Südfrankreich und
Italien lassen sich als Strategien der Einfachheit gegen die
unentwirrbar werdenden Verhältnisse interpretieren; dieselbe
Strategie, die der Physiker auf seiner Suche nach einer
einheitlichen Wurzel der Dinge verfolgt. Ich denke, wenn Literatur
sich in diesem Kraftfeld bewegt, ohne es analysieren, verstehen, die
Grundformeln anschreiben zu wollen, dann ist sie am
wirkungsvollsten. Sie benötigt dann nicht primär die
Innovation, sie benötigt nicht primär eine neue Sprache
und Form, und sie benötigt erst recht kein E- oder U-Etikett.
Die Sorge, die Literatur könne so auf der Stelle treten, habe
ich nicht. Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen,
heißt es. Ebenso wenig kann man zweimal dieselbe Geschichte
erzählen weil sich die Bedingungen des Erzählens, die
Wechselwirkungen zwischen Autor und Welt, ändern. Das ist die
eigentliche Banalität. Alles ist schon einmal dagewesen. Das
stimmt. Aber vor zweitausend Jahren ist auch schon einmal alles
dagewesen, und vor fünftausend auch. Jede Geschichte ist alt
und neu zugleich. Wie sich die Formen dabei ändern, ist mir als
Autor im Grunde egal. Formen evolvieren sowieso, sie brauchen keine
Evolutionsmechaniker. Ich habe am Anfang gesagt, daß ich viele
Dinge so sehen würde, wie ich sie hier dargestellt habe, auch
wenn ich nicht Physik studiert hätte. Ich kann aber nicht
ausschließen, daß die Physik vieles erst freigelegt hat.
Ohne den Umweg über die naturwissenschaftliche Besinnung, wäre
vielleicht vieles im Dunkeln geblieben. Insofern mag die Physik mein
Schreiben beeinflußt haben. Aber, auch davon bin ich
überzeugt, Erkenntnisse helfen beim Schreiben letztlich nicht
weiter, sind für schöpferische Prozesse am Ende nutzlos.
So bleibt bei allen Analogien und Parallelen für mich
schließlich doch eine unüberbrückbare Differenz.
Weder die Natur- noch die Geisteswissenschaften liefern Rezepte, die
bei schöpferischen Prozessen helfen. Auch das Kraftfeld
zwischen Einfachheit und Komplexität liefert kein
Konstruktionsprinzip für Literatur, ebensowenig wie das
Gravitationsgesetz ein Bauplan für eine Galaxie ist. Literatur
entsteht nicht aus Gesetzen, befolgt sie aber mitunter. Das
entlastet den Autor allerdings nicht. Albert Einstein hat einmal
gesagt: "Raffiniert ist er, der Herrgott", und wenn ich
den Autor auch nicht in den Rang eines Weltenschöpfers erheben
will, möchte ich doch meinen Vortrag mit einer letzten Analogie
abschließen: Raffiniert muß er sein, der Autor.