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Ein Buch, das seine Leser für erwachsen nimmt.
Erhard Schütz
Ulrich Woelk lieferte bisher in großer Regelmäßigkeit Romane anspruchsvollerer Liebeskonflikte: ungleiche Paare, gern gepaart mit Problemen der höheren Physik. Seinen neuen Roman könnte man denn auch so zusammenfassen: Angereifter Mann gerät an junge Frau eines ziemlich älteren, eifersüchtigen Mannes, zusammen mit ihr kurz ins Amsterdamer Rotlichtmilieu und dann gründlich über die Grenzen seiner Familie. Das freilich würde den Kern von "Was Liebe ist" gleich mehrfach verfehlen. Denn Roland Ziegler, 36 Jahre alt, Jurist und Verantwortungsträger einer aus einer Spulen- und Ankerwickelei hervorgegangenen Elektro-AG, ist hochdiszipliniert. Als Epileptiker ist er medikamentös ordentlich eingestellt, seit langen Jahren anfallfrei. Er versagt sich alles möglicherweise Aufwühlende, zum Beispiel Musik, obwohl er dafür sehr begabt ist. Darum hat er sich auch nie auf eine festere Liebesbeziehung eingelassen.
Es ist das Jahr 1999; Ziegler befindet sich auf dem Weg in Schröders Kanzleramt. Die Firma war zu Großvaters Zeiten kriegswichtig und beschäftigte Zwangsarbeiter. Nun geht es um die Beteiligung der deutschen Wirtschaft am Entschädigungsfonds für die noch Überlebenden. In einem Café, in dem er einen offenbar doch möglichen Anfall abwarten will, begegnet er Zoe, einer Jazzsängerin. Da ist es um ihn geschehen.
Aber erst einmal stimmt er, zum Befremden seiner Kollegen, im Kanzleramt dem Entschädigungsfonds nüchtern kalkulierend zu, um einen Imageschaden abzuwenden, "strategische Investition" wird das später genannt werden, "Ewigkeitskosten", wie im Bergbau; die Opfer sollen dann aber auch für immer schweigen. Nach seiner Rede muss er, der als "Fallsüchtiger" selbst Opfer des Nazi-Wahns geworden wäre, sich übergeben. So weit und nicht weiter nacherzählt, denn die Nuancen der Geschichte sind dafür zu differenziert, vor allem aber ist die Konstruktion geradezu nach Maßgabe altgriechischer Tragödien so unheilvoll verstrickt, dass es Verrat an der durch und durch spannenden Geschichte wäre. Eine Erzählung, die Kontingenzen und Kausalitäten der individuellen, familialen und gesellschaftlichen Geschichte aufs Dichteste miteinander verwebt.
"You don't know what love is": Was Liebe ist, diese Frage spielt der Roman in den vielfältigsten Konstellationen durch, Leidenschaft und Verantwortung, Geld und Neugier, Erfüllung und Versagung. Und – wie könnte es anders sein – das führt in Uneindeutigkeiten, Ambivalenzen, Evidenzauflösungen, Fehldeutungen und Verkennungen. Gespiegelt bis in kleinste Alltagsszenen hinein, beim Hütchenspiel oder Auffahrunfall. Die Großmutter – "ehrwürdige Zeugin eines Jahrhunderts" oder ein "Gespenst"? Wann und warum lügt Zoe und singt davon? Warum hat die Mutter ihn als Kind auf Nimmerwiedersehen verlassen, wer ist Zoes Vater? Woran ist der Zwangsarbeiter Josif Tschanoff wirklich gestorben? Warum ist die Schwester des Vaters nach Holland gegangen?
Ein Buch, das seine Leser für erwachsen nimmt. Liebe unterm Zwang – der Krankheit oder der rassistischen Diktatur. Was schlimmer ist, die Frage stellt sich am Ende nicht mehr, angesichts am persönlichen, familialen und historischen Schicksal gereifter Entscheidungen. Was die reifste Leistung dieses Romans aber ausmacht, ist die Balance im Erzählen vom Verschweigen: zwischen fataler Verdrängung und schmerzlicher Verschonung. Und die angenommene Herausforderung, eben davon zu erzählen.