T
Textauszug:
WAS LIEBE IST
Das A-Trane ist, wie sich herausstellt,
ein Jazz-Club in Charlottenburg. Über dem Eingang leuchten die
Buchstaben des Namenszugs rot auf den fünf waagerechten Linien eines
Notensystem aus Neonröhren. Das A ist von einer stilisierten blauen
Note umgeben. Blue Notes
sind die besonderen Töne, die dem Blues seine melancholische
Klangfarbe verleihen. Das B, mit dem er Niko an den Boogie-Woogie
heranführen wollte, war eine blue
note.
Es
ist wenige Minuten vor zehn, als er ankommt und aus dem Taxi steigt.
Ein Plakat an der Kasse informiert den Besucher, dass heute Abend das
Duo Zoe Z., vocals,
und Ivo Reich, piano,
im Club gastiert. Er weiß nicht, wofür das Z. hinter Zoe steht.
Vielleicht hat sie es aus klanglichen Gründen eingefügt. Er
vermutet, dass Zoe ihren Namen als Sängerin englisch ausspricht, mit
klingendem i, also ungefähr Soïsett.
Schichten aus farbigem Zigarettendunst schweben über der
ausgeleuchteten Bühne. Der Auftrittsbereich ist klein, mehr eine
erhöhte Raumecke. Neben dem schwarz glänzenden Stutzflügel steht
ein Mikrofon. Das Publikum sitzt an Bistrotischen und auf Hockern.
Der Club bietet vielleicht sechzig oder siebzig Gästen Platz.
Auf dem Programmflyer an der Kasse sieht Zoe ein bisschen überheblich
und extravagant aus. Der Kurzbiographie unter dem Bild entnimmt er,
dass sie ihre Karriere als Sängerin in einer Rockband in Amsterdam
begonnen hat. Das hat sie ihm nicht erzählt. Ivo Reich, ihr
musikalischer Partner, sieht aus wie Joseph Beuys: schmales Gesicht,
so knochig wie ein Schädel.
Er bestellt ein Wasser und sieht sich um. Ob Piet hier ist? Er kann
ihn im Publikum nicht entdecken. Es ist kaum anzunehmen, dass Piet
einen Auftritt seiner Lebensgefährtin verpasst, zumal Zoe ja nicht
nur seine Lebensgefährtin ist, sondern auch seine Schülerin oder
eine Art Protégé.
Kurz nach zehn kommen Zoe und ihr Pianist auf die Bühne, kein
großer Auftritt mit Gehabe, sondern ein schlichtes Erscheinen in
einem vertrauten, fast freundschaftlichen Kreis. Der Beifall ist
höflich, warm, offen. Er fragt sich, ob Zoe ihn im Publikum sucht.
Sie hat ihm die SMS vor etwa anderthalb Stunden geschrieben. Hofft
sie, dass er gekommen ist?
Sie trägt die schwarzen Schnürboots von gestern, aber eine schmaler
geschnittene Hose, deren Beine im Schaft der Stiefel verschwinden.
Der Gürtel sitzt sehr tief auf ihren Hüften. Ihr Top ist aus
schwarzem Feinripp, bis auf die Farbe ein klassisches Unterhemd, nur
an den Achseln und im Dekolletee etwas weiter ausgeschnitten.
Es
wird still. Zoe schließt die Augen. Die ersten Pianoakkorde lassen
keine Rückschlüsse auf die Melodie zu. Blue
notes
schweben durch den Raum, Harmonien zwischen Dur und Moll, große Terz
in der tiefen Lage, kleine Terz, bzw. Dezime in der hohen. Er denkt
noch einmal an Niko, den diese Uneindeutigkeit verwirrt hat.
Zoe
steht mit gesenktem Blick vor dem Mikrofon. Ein wenig wirkt es so,
als müsse auch sie erst herausfinden, welches Stück ihr Partner
spielt. Doch dann bindet sie mit ihrer Stimme alles zusammen, was er
bisher nur umspielt und ausgeschmückt hat. Innerhalb einer Sekunde
macht sie einen Song hörbar, den alle kennen. You
know, that it would be untrue ... Auf
einmal erfüllt der alte Doors-Klassiker Light
My Fire
den Raum.
Das
Publikum ist verblüfft und amüsiert, klatscht vereinzelt oder lacht
entspannt. Zoe blickt auf und lächelt, freut sich über den
gelungenen Effekt. Kein Jazz-Standard, sondern ein Pop-Oldie im
Blues-Gewand. Sie lässt sich mit der zweiten Zeile Zeit, lässt den
Pianisten noch ein paar Takte improvisieren. You
know that I would be a liar
...
Ihre
Bewegungen beim Singen faszinieren ihn. Sie wirken marionettenhaft.
Mal hebt sie die Arme flehentlich, dann fallen sie kraftlos herunter,
als habe jemand die Fäden durchtrennt. Ihre Hände mit den langen
schmalen Fingern formen unablässig Zeichen, ihre Füße in den
schweren Schnürboots dagegen bewegen sich kaum. Sie wiegt sich vor
dem Mikrofon hin und her wie eine Tulpe. Bei manchen Tönen hebt sie
ihre Schultern, als wolle sie den Klang ganz besonders verdichten.
Dann wieder kippt ihr Kopf ein wenig manieriert wie erschöpft nach
hinten, so dass sie für einen Augenblick im Hohlkreuz dasteht und
ihr Bauchnabel zwischen dem Saum des dunklen Feinripptops und dem
tief sitzenden Gürtel der Hose sichtbar wird. Spätestens beim
Refrain ist er süchtig nach diesem Gehabe. Zoe nähert sich mit den
Lippen dem Mikrofon, schließt die Augen und haucht zu einer reinen
G-A-D-Kadenz die Zeile, auf die irgendwie alle gewartet haben: Come
on baby, light my fire
...
In
diesem Moment betritt Piet das A-Trane, von dem er ja praktisch nichts weiß, außer dass Zoe mit ihm zusammelebt, obwohl er ihr Vater sein könnte. Piet lässt den Blick durch den
Raum schweifen und lächelt dabei sein übliches, etwas abgehobenes
Lächeln. Die Lichtverhältnisse sind zu schlecht, um jemanden zu
erkennen. Zoes Augen sind noch geschlossen. Try
to set the night on fire ...