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Von einer Sekunde auf die andere
Hajo Steinert
In Sekundenschnelle, so die eher auf Unerfahrenheit als auf Durchtriebenheit basierende Liebesphilosophie des 36-jährigen Juristen Roland Ziegler, entscheide sich, ob man einer Zufallsbekanntschaft erotisch verfällt oder nicht. Wenn sich nicht auf Anhieb ein erotisches Kribbeln bemerkbar macht, folgern wir, wird sich auch später, sollte man sich näher kennenlernen, kein sexuelles Interesse ergeben. Roland Ziegler erleidet bei seiner Beschäftigung mit der bohrenden Frage "Was Liebe ist" einen wohltuenden Praxisschock. Er sieht sich in seiner Theorie von einem Moment auf den anderen aufs Wunderbarste bestätigt. Indes auch auf das Gefährlichste
Der Reihe nach: Bei der Begegnung mit Zoe am Abend in einer Berliner Kneipe, wo sie als Jazzsängerin gerade den beschwörenden Song "You dont' know what love is" ins Mikrofon haucht, trifft ihn Amors Pfeil in Sekundenschnelle. Zoe ist Ende zwanzig, sehr schlank, sehr schön, hat einen Roland befremdenden und zugleich anmachenden Schriftzug "Fight and Love" auf dem verwaschenen T-Shirt. Draußen blitzt und donnert es ganz unmetaphorisch, schließlich ist auch der immerhin schon 60-jährige Freund und musikalische Ziehvater Zoes zugegen. Ein Eifersuchtsdrama ist vorprogrammiert
Dabei ist der Grund des in Frankfurt lebenden Mitinhabers eines Familienunternehmens für Großtransformatoren und Starkstrom-Umspannanlagen für seinen Aufenthalt in Berlin im Herbst 1999 von äußerst prosaischer Natur. Er besucht tagsüber eine Konferenz über die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg, in deren Verlauf er mit einem mutigen Wortbeitrag sogar Bundeskanzler Schröder verblüfft. Roland liegen Dokumente vor, die belegen, dass nicht nur die Deutsche Bank, Degussa oder Mercedes-Benz Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten für die deutsche Kriegswirtschaft schuften ließen ("Vernichtung durch Arbeit"), sondern auch die (wohlgemerkt fiktive) Firma seines Großvaters, dem Firmengründer. Roland plädiert gegen den Widerstand der Miteigentümer, die um eine Schwächung der aktuellen Kapitalstärke fürchten, für eine Beteiligung an den Zahlungen zur Entschädigung, sieht aber die Gefahr, dass Bundesregierung und Industrie auf diese Weise einen wohlfeilen Schlussstrich unter ein düsteres Kapitel der deutschen Geschichte ziehen wollen und sich einer weiter gehenden Verantwortung entziehen.
Nach den politischen Entscheidungen kommt die Literatur. Sie hinterfragt Einzelschicksale. Und das tut dieser Roman mit großem Pathos. Ob Sängerin oder Bundeskanzler, Eros oder Naziverbrechen, Vergessen und Wiedergutmachung. Berliner Kneipe oder Konferenzsaal - Roland Ziegler muss sehr auf sich selbst aufpassen: Er ist Epileptiker. In der Nazizeit, weiß er, hätte er auf der Liste derer gestanden, die zwangssterilisiert worden wären. Auch wenn er seit Jahren dank seiner Medikamente keinen Anfall mehr hatte - bei zu viel Aufregung könnte es ihn - auch dies eine Frage von einer Sekunde auf die andere - erwischen. Aus diesem Grunde war er in seinem bisherigen Leben zögerlich, eine dauerhafte Bindung einzugehen oder gar ein Kind zu zeugen. Diesen verborgenen Wunsch würde ihm auch Zoe, ginge ihr Verhältnis über eine einwöchige Love Affair hinaus, nicht erfüllen. Von Geburt an, findet nur Roland heraus, verbindet die Beiden ein Schicksal, das gegen Ende des nüchtern, selbst in den pikanten Szenen diskret erzählten Romans dann doch für einen Donnerschlag sorgt. Aus der Diskrepanz, dass Roland und der Leser mehr wissen als Zoe, bezieht der Roman seine enorme Spannung.
Die Geschichte einer Liebe, die nicht sein darf, das Verlangen nach historischer Aufklärung über ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte, die tägliche Bedrohung von einer Krankheit, die in der deutschen Literatur - abgesehen von einer Episode in Thomas Manns "Zauberberg" - bislang so gut wie gar nicht vorkam: Das sind die drei Handlungsebenen des Romans, von denen man sich von Beginn der Lektüre an mit Sorge fragt, wie sie, die in den ersten Kapiteln etwas konstruiert aufgebaut werden, ineinander gehen und den Roman zu einem einheitlichen, in sich stimmigen Gebilde werden lassen. Es sei verraten: Am Ende ist der Leser, trotz sich geradezu überschlagender Plots, von der Dramatik tragischer Schicksale ergriffen.
Großartig, wie verschossen der allwissende Erzähler seinen von Natur aus eher vernünftigen Helden (ein Jurist!) durch die Gegend laufen und fahren lässt, wie er ihn in Verwirrung und Eskapaden stürzt. Die Begierde gehört dazu wie das Rückzugsgefecht, wie hieß er doch auf dem T-Shirt: "Fight and Love". Die Sprache der Prosa bleibt dabei allerdings stets kontrolliert, sie steht in einem Schlips-und-Kragen-Verhältnis zum chaotischen Leben, wie es Zoe pflegt. Links der (auch ökonomisch) sichere Boden des Rationalismus, rechts der Abgrund der Romantik - Ulrich Woelk findet einen Weg zwischen den Gegensätzen und hält die Balance. Sein Roland zieht 5-Sterne-Hochhaus-Hotels vor, Zoe nimmt ihn mit in eine Absteige mitten im Rotlicht-Bezirk zu Amsterdam. Der Autor kennt sich hier und da gut aus.
Dass dem Erzähler zum Ende hin das Herz immer schneller schlägt und dabei die Luft etwas ausgeht, ist der Ergriffenheit, die den Autor beim Abfassen seiner Geschichte selbst erfasst hat, geschuldet. Er hat sehr genau recherchiert. Dokumentarisches steht der Fiktion nicht im Wege. Im Gegenteil. Neben einem leidenschaftlichen und Leiden schaffenden Liebesabenteuer steht die literarische Aufklärung über ein Stück deutscher Geschichte, das trotz erlassener Gesetze nicht ad acta gelegt werden darf. Ulrich Woelk sorgt mit seinem vielschichtigen, gut geschriebenen und trotz seines beklemmenden Endes auch unterhaltsamen Roman für Anteilnahme im wahrsten Sinne des Wortes