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Uns sie redeten nicht über den nächsten Tag
Stephan Krass
Jan hat Geburtstag. Er wird 35 Jahre alt. Das Handgepäck zwischen den Füssen, steht er im Passagierbus, der ihn nach einem Atlantikflug zum Terminal des New Yorker Flughafens bringt. Die Luft ist heiss und feucht. Ein neuer Kontinent liegt vor ihm. Später einmal, in einer prähistorischen Landschaft irgendwo in South Dakota, sucht er nach dem Titel eines Films, in dem Harrison Ford einen Staatsanwalt spielt, der im Zuge der Ermittlungen selbst zum Verdächtigen wird. «Presumed innocent» heisst der Film.
Jan weiss, dass man nur unschuldig durchs Leben kommt, wenn man sich raushält. Also hat er sich eine biographische Versuchsanordnung konstruiert, die ihn zum unbeteiligten Gast im Hier und Jetzt macht. Er will nicht Täter und nicht Opfer sein. Erst recht nicht den Helden spielen. Er will nur ein möglichst angenehmes Leben führen. Wenn es schon um nichts geht, soll es wenigstens Spass machen. Als Kristin in ihrer New Yorker Wohnung, die sie mit ihrem Mann Walter bewohnt, den Amerika-Ankömmling fragt, wie es ihm gehe, sagt er: «Ich glaube, gut»
Jan liebt die Frauen, aber auch in der Liebe möchte er den Beobachterstandpunkt nicht aufgeben. Sein rituelles Verhältnis zu Frauen vollzieht sich im Rhythmus von Eroberung und Abschied. Zwar ist er ein Erotiker mit Prinzipien, der von einer «vollständigen Geographie des weiblichen Körpers» träumt, aber die Suche nach Glück und Harmonie scheint ihm trügerisch. Also pflegt er einen folgenlosen Hedonismus, in dem das antiquierte Ideal der Liebe im Spiel wechselnder Liebschaften aufgelöst wird.
Das Leben ist eine Folge von Zeitverträgen, die Welt ein Transitraum. Lange Beziehungen erscheinen Jan wie «Netze, die verlassen zwischen kahlen Asten schaukeln». Er glaubt nicht an einen Sinn oder eine Bestimmung. Jan will Präsenz, keine Transzendenz. «Das Leben ist besser als sein Ruf», sagt er. Man muss nur im richtigen Moment wieder gehen. Die Kunst der Lebensführung besteht in der Terminierung der Rückzugsgefechte. Wenn man diese Generation irgendwann fragen wird, wie das Leben denn so war, sagt Kristin einmal, «werden wir antworten: Es war okay.»
Amerika mit seiner «schillernden Diesseitigkeit» ist das Terrain, das Jans Lebensentwurf korrespondiert. In der Anonymität des nächtlichen «Neonschachbretts» von New York wird der auf Tiefe gerichtete Blick melancholischer europäischer Sinnsucher von flackernden Lichtreklamen und glänzenden Glasfassaden ironisch zurückgeworfen. Alles ist, wie es ist. Es ist nichts dahinter. Jan ist endlich angekommen, und er ist doch bereits verloren. Sei es, dass er im Laufe seines Lebens so viel Gewicht abgeworfen hat, dass er zu leicht geworden ist und sich selber nicht mehr spürt; sei es, dass ihn sein folgenloser Hedonismus nicht mehr befriedigt. Jedenfalls hat er hier in Amerika das Gefühl, dass er in eine Geschichte hineingezogen wird, in der er seine komfortable Nichteinmischungspolitik aufgeben muss.
Schuld war bisher eine versicherungstechnische Grosse für ihn und kam in seinem persönlichen Koordinatensystem nicht vor. Seit er aber in Amerika ist, ist sein Frühwarnsystem ausser Kontrolle geraten. Er weiss nicht mehr, ob und wann er gegen seinen eigenen Regelkanon verstösst. «Presumed Innocent» heisst der Film. Aber das Leben ist kein Film, bei dem das Ende schon vorher feststeht.
Jan verspürt den starken Wunsch, das starre Wechselspiel von Lebensverweigerung und Weltentzug zu sprengen. Es hat viele Optionen, aber es hat keine Richtung. Ihm fehlt plötzlich eine Daseinsdimension, die sich nicht in Lustprogrammen narkotisieren lässt. Der Beobachter in Jan will Prokura, er will Beteiligter werden. Also muss er sich in Gefahr begeben. Und jetzt werden die Dinge kompliziert. Sein Freund Walter sagt es pragmatisch: «Wer auf die Strasse geht, tritt irgendwann in die Scheisse.»
«Objects in this mirror may be closer than they appear», steht im Rückspiegel des hellblauen Buick, mit dem Jan und Kristin quer durch den halben Kontinent fahren. Sie haben keine Strecke verabredet. «East oder West?» fragt Jan. «West», sagt Kristin. Es wird Abend und es wird Morgen, und sie reden nicht über den nächsten Tag. Kristin ist mit Jan abgehauen und hat ihren Mann Walter mit seinen Börsengeschäften in New York zurückgelassen. Jan spürt in Kristins Gegenwart Momente des Glücks. Er erfährt Augenblicke, «in denen er hätte mit dem Tod leben können». An ihrer Seite hört er sich Sätze sagen, die er früher für kategorischen Schwachsinn erklärt hätte. Jan spricht von Liebe, und er glaubt zu wissen, was ihm bisher in seinem angenehmen, aber «seltsam gestaltlosen» Leben gefehlt hat. Doch Kristin bleibt in ihrer «weissen Schlankheit» eine unnahbare Schöne. Sie sagt: «Vergiss alles» und spricht lieber von der unmittelbar bevorstehenden Himmelskollision des Kometen Shoemaker-Levi mit dem Jupiter.
Maria und Josef und der Stern von Bethlehem. Maria ist schwanger. Aber nicht von Josef. Ihr in Börsenspekulationen verstrickter Mann Walter ist der Erzeuger. Aber wer ist schon Walter? Wer ist Jan? Am Ende ist Kristin es, die alle Fäden in der Hand hält und den skrupulösen Männern die Spielregeln des Doppellebens vorführt. Das Paar unter dem Stern findet auch eine Hütte in dieser Nacht. Der Ort heisst «Badlands», und das Gelobte Land ist fern. In der Hütte ist noch ein anderes Paar, und die unheilige Familie findet sich plötzlich im Sündenstand des Partnertausches. Jan schläft auch mit Kristin, aber er bekommt sie nicht. Die Heilige ist eine Hure. «Wir haben nicht miteinander geschlafen. So sehe ich das», sagt Kristin. «Du hast recht», sagt Jan. «Wir sollten fahren.» Der Himmel ist leer, nur der Tank ist voll.
Jans Wechsel vom Beobachter zum Beteiligten ist gescheitert, aber den vollen Preis hat er noch nicht gezahlt. Mit der weissen Göttin ist er seinem Lebensprinzip der Nichteinmischung untreu geworden, doch das hat den Kometen noch nicht aus der Bahn geworfen. Erst als er der zynischen Auslegung jener Lebenshaltung, die er selbst bevorzugt, ins Auge sehen muss und ihn auch kein blonder Engel mehr retten kann, stürzt der Komet ins Bodenlose. Einsam, ratlos, wund. Ecstasy, bliss, nirwana. «Irgendwo ist immer Ende, und irgendwo ist immer Anfang.»
Woelk behandelt seinen Stoff mit der frappanten Plausibilität, die man von guten Filmen kennt. Die Figuren sind genau gezeichnet, die Schauplätze kalkuliert gewählt, und die Geschichte hat drive. In einer raffinierten Rückblendentechnik erzählt er den Hauptteil des Buches zweimal, wobei in der Wiederholungsversion die ausgesparten Teile der ersten Fassung nachgeschoben werden. Man kennt das Ende und erfahrt die näheren Umstände später. Das Montageverfahren verändert die Anordnung, spielt mit den Ebenen, nicht mit Bedeutungen. Die Leinwand hat keinen doppelten Boden.
Was Woelk zeigen will, zeigt er. Er kennt seine Figuren genau und verrät sie nicht an Einsichten. Geschickt in den Handlungslauf verwoben sind reflexive Passagen, die den narrativen Strom verlangsamen; Kurzessays über Reisen und Einsamkeit, Amerika und die Spasskultur, die Chaostheorie, die Simulation und die Sexualität. Als Jan bei seinem letzten Gang durch New York die Ereignisse seiner Reise Revue passieren lässt und noch einmal die Stadt in sich aufnimmt, überlegt er sich, was er zu Hause über die fremde Metropole berichten wird. Lakonisch stellt er fest, dass er erzählen wird, was alle schon wissen. Aber wie er das tut, das ist schon bemerkenswert.