Textauszug: AMERIKANISCHE REISE
Jan erwacht in der Nähe von
Chicago. Er schwitzt. Sein Hemdkragen klebt an seinem Nacken, und die
steil in den Wagen scheinende Sonne heizt seine Oberschenkel auf. Er
hat einen säuerlichen Nachtgeschmack auf der Zunge und seine
Zähne sind wie mit Filz belegt. Kristin sitzt neben ihm, eine
Hand am Steuer und den Blick geradeaus in die Landschaft gerichtet,
die hinter ihrem Profil vorüberfließt wie ein
grobgeknüpfter, welliger Teppich, der blaßgrün neben
dem Highway verlegt ist. Keine Hochhäuser, kein Asphalt.
Jan braucht eine Weile, um zu verstehen, wie er in den Wagen
gekommen ist. Er erinnert sich an den Besuch in Kristins Galerie und
an Walter, der aus Wut über die ausgestellten Bilder gegangen
ist, weil Kristin sich nackt hatte fotografieren lassen. Dann der
Streit zwischen den beiden, an dessen Ende Kristin Walter ihre
Schwangerschaft vor die Füße warf wie einen Fehdehandschuh
und nicht wie ein gemeinsames Glück, und Walter war nicht in der
Lage, ihr nachzugehen und sich bei ihr zu entschuldigen. Er bat Jan
darum, der anschließend mit Kristin durch die Straßen
ging. Er folgte ihr zu dem Parkhaus, sie wechselte ein paar Worte mit
dem Parkwächter, und dann fuhren sie durch New York und Jan
kämpfte gegen die Müdigkeit, den Jet-lag, während
Kristin den Buick durch die nächtlichen Straßen steuerte -
und jetzt, vielleicht sechs oder sieben Stunden später, die
porzellanene Helligkeit um ihn herum...
Jan rutscht höher im Sitz. Sein Mund ist ausgetrocknet.
"Wieviel Uhr ist es?" Er nimmt die Mineralwasserdose aus
der Halterung in der Mittelkonsole, sie ist leer und leicht wie ein
Tischtennisball.
Kristin dreht sich zu ihm und sieht ihn an. Ihre Augen liegen tief
und erschöpft in den Höhlen wie Schatten auf einer
Röntgenaufnahme, aber ihr Blick enthält eine seltsame
Entschlossenheit.
"Halb zehn", sagt sie und wendet sich wieder dem Highway
zu, dem sie seit Stunden folgt, durch die Dunkelheit zuerst, dann
durch das Morgengrauen.
Jan versteht, was geschehen ist. Sie hat die Stadt verlassen,
lautlos und ohne jemandem ein Wort zu sagen, und sie ist gefahren und
gefahren, als müsse sie seine Übermüdung nach dem Flug
und dem langen Abend nutzen, um ihm nicht nur New York zu zeigen,
sondern den Kontinent.
"Hast du noch eine?" fragt Jan und schüttelt die
leere Getränkedose.
"Auf dem Rücksitz."
Jan dreht sich herum. In den Polstern liegen ein paar Dosen,
Schokoriegel und in Zellophan eingeschlagene Sandwiches. Kristin hat
irgendwann in der Nacht angehalten und getankt, während er
geschlafen hat. Er nimmt eine der Dosen und öffnet sie, kleine
Wasserperlen sprühen auf seine Hand und glitzern in der Sonne.
Er sieht Kristin an. Wie auch immer alles gekommen ist, im Ergebnis
ist es einfach: Er ist mit ihr unterwegs.
Der Highway folgt einer weitgezogenen Biegung, scharfe Schatten
bewegen sich langsam über Kristins Gesicht. Ihre Züge
gefallen Jan besser als vor Stunden in der diffusen Stadtatmosphäre.
Es kommt ihm vor, als hätten sie hinter der Erschöpfung,
die ihr Gesicht überschattet, ihre jugendliche Signatur
wiedergewonnen, eine hellhäutige Kühle, hinter der sie
früher stets ihre Unsicherheit verborgen hat. Aber es ist nicht
nur das Licht, das ihr Gesicht verändert. Es scheint, als habe
sich die Patina von Jahren über Nacht gelöst.
Jan trinkt einen Schluck Wasser und tauscht die leere Dose in der
Halterung gegen die volle aus. "Hast du mit Walter gesprochen?"
fragt er.
Kristin schüttelt den Kopf. "Ich wollte dich nicht
wecken."
Jan weiß, daß es eine Ausrede ist, aber eine lieb
gemeinte. Er stellt fest, daß es ihm egal ist, was Walter
denkt.
Kristin verläßt den Highway und steuert auf den
Parkplatz eines Einkaufszentrums, sie steigen aus. Obwohl noch
Vormittag, ist es bereits heiß. Im Supermarkt dagegen trockene
Kühle. Jan kauft ein paar T-Shirts und eine Hose zum Wechseln,
dann ein Paar Reebocks, die mit blauem Teppich ausgeschlagen sind wie
der Buick. An jedem zweiten Produkt hängt ein Schild: Sale!,
daneben eine Prozentzahl. "Sale", erklärt Kristin,
"heißt soviel wie Sonderangebot. Sales gibt es immer. Den
rainy-day-sale wenn es regnet, um die Leute vor die Haustür zu
locken."
Jan erinnert sich, daß sie ihm vor ein paar Stunden beim
Kaffeetrinken erklärt hat, was Donuts sind. Den
Geburtstagskuchen, den sie für ihn gebacken hat, haben sie nicht
gegessen. Bis sie wieder in New York sind, wird er vertrocknet sein.
Obwohl sie nicht darüber reden, ist klar, daß sie
Kleidung brauchen. Wenigstens für ein paar Tage. Kristin schiebt
den Einkaufswagen in die Wäscheabteilung. Sie kauft Slips mit
zwei Finger breiten Hüftstegen, bemerkt Jan.
In der Haushaltsabteilung nimmt sie eine Kunststoffkühlbox
aus dem Regal, die sie hinterher in den Kofferraum stellt und mit
Getränkedosen auffüllt. Sie leert einen Beutel Eiswürfel
darüber und klappt den Deckel zu. Nach der Kühle im
Supermarkt liegt die Hitze wie Quecksilber auf dem Asphalt.
"Ich brauche noch einen Kaffee", sagt Kristin. Sie
setzen sich in ein Restaurant mit Aussicht auf den Parkplatz. Die
fußballfeldgroße Asphaltfläche ist höchstens zu
einem Drittel ausgelastet. Jan sieht auf die an- und abfahrenden
Autos. Er ist mit Kristin unterwegs, und es gefällt ihm schon
jetzt. Einfach nur dazusitzen und ihr zuzusehen, wie sie ihren Kuchen
ißt, erscheint ihm wie ein um einen Tag verspätetes
Geburtstagsgeschenk.
Kristin sieht auf und bittet ihn, mit Walter zu telefonieren.
"Ich?" Jan könnte sich darauf zurückziehen,
daß dies nicht seine Sache ist. Kristin überredet ihn mit
einem Blick, in dessen Erschöpfung sich ein kindliches Vertrauen
in seine Fähigkeit mischt, in jeder Situation die Nerven zu
behalten, ein Vertrauen, das ihm schmeichelt, obwohl ihm nicht klar
ist, woher sie den Glauben an seine Souveränität nimmt. Er
steht auf und geht zum Telefon.
Walter ist sofort am Apparat, er habe sich Sorgen gemacht, was
denn los sei? Jan bleibt tatsächlich ruhig und erklärt ihm,
daß er nicht mehr in New York ist, sondern knapp zweihundert
Kilometer vor Chicago.
"Chicago?" Walter bringt ein paar Sekunden lang keinen
Ton heraus. Für die Börse müßte er abgebrühter
sein, denkt Jan.
"Wieso Chicago?" fragt Walter noch einmal.
Jan hebt die Schultern, als könne das Telefon auch seine
Körpersprache übertragen. Er erklärt Walter, was
geschehen ist; daß Kristin genug hatte und gegangen ist, aber
so sagt er es nicht. Er sagt: Sie mußte mal raus. Wohl seit
langem schon. Er sagt nicht, wie sehr es ihm gefallen hat, neben ihr
aufzuwachen.
Walter hegt gegenüber Jan kein Mißtrauen. Er wird
wütend. "Kristin ist verrückt geworden. Die
Ausstellung gestern, das war doch lächerlich", sagt er. Ihm
ist klar, daß es keinen Sinn hat, mit Jan über eine
schnelle Rückkehr zu feilschen. Er sieht Jan als Opfer, nicht
als Täter. "Paß auf sie auf und versuch, ihr den
Unsinn auszureden", bittet er ihn. Jan nickt das Telefon an, und
sie verabschieden sich.
Kristin steht zwanzig Meter weiter an den Buick gelehnt und
wartet. Er wird ihr überhaupt nichts ausreden, denkt Jan. Sie
erkundigt sich nicht danach, was Walter gesagt hat. Sie hat sich noch
einen Kaffee besorgt, den dritten. Der Pappbecher ist fast leer. Jan
wird bewußt, daß sie übermüdet ist. Aus
irgendeinem Grund will sie trotzdem am Steuer bleiben, aber er
besteht darauf, sie abzulösen, es sei denn sie suchten sich auf
der Stelle ein Hotel - und für einen Moment zieht die
Vorstellung durch Jans Kopf, daß er sich mit ihr in einem
Motelzimmer befindet mit einem billigen Bett, auf dem sie sich
lieben.
Kristin gibt nach und geht um den Wagen herum. Jan setzt sich
hinters Steuer, verschiebt den Automatikhebel und läßt den
Wagen anrollen. Sie nähern sich der Auffahrt zum Highway und
haben zwei Richtungen zur Auswahl.
"East oder west", fragt Jan.
"West", sagt Kristin.
Irgendwann wächst die Skyline von Chicago aus dem Boden, als
stünde sie auf einer Hebebühne.
Kristin will auf den Sears-tower. Die Vorstellung, mit dem
Fahrstuhl siebzig oder achtzig Stockwerke zu fahren, gefällt Jan
nicht. Er hat einmal gehört, Wolkenkratzer seien keine starren
Gebilde, sondern in der Lage zu schwanken wie Gummi, und dabei gehe
es nicht nur um wenige Zentimeter, sondern um Meter, fünf bis
sechs Meter könne ein Wolkenkratzer an seiner Spitze um seine
Ruhelage pendeln. Kristin nimmt ihm nicht ab, daß er sich
darüber ernsthaft Sorgen macht.
Sie betreten den Fahrstuhl und zwängen sich mit dreißig
oder vierzig Personen in die Kabine. Jan mag weder Fahrstühle
noch Seilbahnen. Die Menschen schieben sich zusammen wie die Poren
eines Schwamms. Wieso heißt es eigentlich Fahrtstuhl? sagt Jan,
während Kristin gegen ihn gedrückt wird und er ihre Brüste
auf seiner Brust spürt. Dann setzt sich die Kabine mit einem
Ruck in Bewegung. Nach einer knappen Minute öffnen sich die
Türen wieder. Blaukristallnes Licht fällt durch Fenster,
die schräg eingesetzt sind wie überhängende Klippen
aus Glas, damit man besser hinab sehen kann. Vor ihnen erstreckt sich
die türkisfarbene Fläche des Lake Michigan, in den die
Schatten der Hochhäuser ragen wie Stege.
Kristin wendet sich nach rechts. Sie schreiten die Fensterfront
einmal rundum ab. In der Mitte hinter Lamellenrollos hat ein
Radiosender seine Studios. Die umliegenden Wolkenkratzer wirken
kleiner. Jan hat das Gefühl, in einer Kapsel über der Stadt
zu schweben, die in glimmendem blauem Dunst schwimmt, als habe die
UV-Strahlung endgültig und auf breiter Front ihren Weg auf die
Erdoberfläche gefunden. Er lehnt sich an eins der Fernrohre, das
unbenutzt auf den Horizont zielt. Kristin kramt eine Münze aus
der Jeanstasche und wirft sie ein. In dem Gerät schnappt ein
Mechanismus, und sie beginnt zu schwenken, Jan muß einen
Schritt zurücktreten. Viel sei nicht zu erkennen, stellt sie
fest. Sie löst ihre Augen von der Sichtblende und überläßt
Jan das Okular. Er läßt das Bild langsam in der
Horizontalen gleiten, Fensterfronten schieben sich vorbei,
geometrische Strukturen aus Glas, gekachelter Dunst. Dann fällt
die Klappe.
Als er aufsieht, lehnt Kristin an dem Geländer und kann sich
nur mit Mühe auf den Beinen halten. Sie setzt sich vorsichtig
auf den Sockel des Fernrohres. Jan hockt sich neben sie. "Es
geht schon wieder", sagt sie.
"Wir suchen ein Hotel", entscheidet Jan.
Sie schüttelt den Kopf. "Noch nicht."
Jan versteht nicht, wieso sie weiterfahren will, aber ihr Ton läßt
trotz ihrer Schwäche keinen Widerspruch zu. Die Entschlossenheit
in ihrem Blick, die Jan schon morgens aufgefallen ist, hat noch
zugenommen. Er sieht sie an. Ihre Augenbrauen erinnern ihn an die
Schwingen eines Vogels, der im Wind gleitet.
Nach ein paar Minuten steht sie langsam auf. Jan legt seinen Arm
um ihre Schultern, und sie gehen zu den Fahrstuhltüren. Sie
warten. Jan stellt sich vor, sie seien ein Paar.
Irgendwann schläft Kristin auf dem Beifahrersitz ein. Ihr
Kopf neigt sich auf die Schulter, ihre Handgelenke kreuzen sich in
ihrem Schoß. Hinter ihrem Profil zieht die Landschaft vorbei,
und gelegentlich ein Wagen, den Jan überholt. Es fällt ihm
schwer, sich an das Tempolimit zu halten, weil kein Hindernis zu
sehen ist bis zum Horizont, über dem die Sonne in einer
Nährlösung aus blassem Gold schwimmt, bis sie schließlich
zerfließt wie ein leck gewordener Kerzenstumpf. Jan fährt.