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Klug, unterhaltsam und hintersinnig
Frank Dietschreit
Erwin Schrödinger? War das nicht dieser schrullige
Wissenschaftler, der die Realität als eine Verdichtung von
Möglichkeiten definierte? Hatte der 1933 mit dem Nobelpreis für
Physik ausgezeichnete Quantenmechaniker nicht auch bewiesen, dass
eine in einen Kasten eingesperrte Katze, solange man den Kasten nicht
öffnet, zugleich tot und lebendig sein kann? Seitdem wissen wir
nicht nur, dass erst das Öffnen des Kastens die Katze dazu
zwingt, entweder tot oder lebendig zu sein, sondern ahnen auch, dass
ohne die Anwesenheit eines Beobachters die Trennung zwischen Leben
und Tod vielleicht nur eine Illusion ist. Was sich wirklich in
"Schrödingers Kasten" abspielt, ist bis heute vielen
Mathematikern und Physikern ein Rätsel. Doch noch viel
rätselhafter könnte sein, was sich in "Schrödingers
Schlafzimmer" ereignet.
Das jedenfalls meint Ulrich Woelk, der, wie kein anderer deutscher
Schriftsteller, aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und
Problemen literarische Funken schlagen kann. Der 1960 in Köln
geborene und heute in Berlin lebende Autor ist promovierter Physiker
und hat sich viele Jahre mit Astronomie und Astrophysik beschäftigt.
Kaum verwunderlich also, dass die Helden seiner Romane sich zumeist,
um ihre Lebenskrisen und Liebesverwicklungen zu meistern, in
mathematische und physikalische Deutungen verstricken. Verblüffend
dabei ist, wie Woelk mit erzählerischer Leichtigkeit und
sprachlicher Eleganz die Untiefen der Wissenschaft umschifft und es
ihm immer gelingt, mit heiterer Ironie seine Fäden zu spinnen
und Figuren zu erfinden, die dem Leser in ihrer sympathischen
Unbeholfenheit ans Herz wachsen. In "Einstein On The Lake"
präsentierte Woelk dem Leser, vor der Kulisse von Albert
Einsteins Refugium am Templiner See, eine herrlich versponnene
Sommer-Erzählung.
In "Die Einsamkeit des Astronomen" pendelte Woelk
augenzwinkernd zwischen schwarzen Löchern und fernen Galaxien
sowie handfesten und hiesigen Gefühlsaufwallungen. Weil
wissenschaftliche Imagination oft wie Zauberei eines Illusionisten
erscheint, ist es für Woelk nur ein kleiner Schritt, um vom
legendären Kasten Erwin Schrödingers (1887-1961) in das
Schlafzimmer von Balthasar Schrödinger zu gelangen. Dieser
Balthasar Schrödinger gibt sich nicht nur als Zauberer, sondern
auch als Enkel des großen Physikers aus. Eines Tages zieht er
in ein seit langer Zeit leer stehendes Haus eines Berliner
Villen-Viertels. Bei den Nachbarn weckt der vermeintliche Zauberer
nicht nur Neugier, er weckt auch vergessene Bedürfnisse und legt
verdrängte Fantasien frei. Vor allem bei Oliver Schwarz und
seiner Frau Doris. Deren Ehe ist in eine Sackgasse geraten, erotisch
nähern sich die beiden einst so Verliebten dem Nullpunkt. Statt
die Probleme offen auszutragen, schweigen sich die beiden an.
Doris glaubt, ihr Gatte treibe es im Hinterzimmer seines
Optiker-Ladens mit einer Geliebten. Oliver mutmaßt, seine
Gattin befriedige ihre sexuelle Not in "Schrödingers
Schlafzimmer". Denn der Zauberer zaubert zwar nie, er ist aber
ein äußerst charmanter Plauderer und sensibler
Frauenversteher. Über sein Schlafzimmer kursieren die wildesten
Gerüchte. Er selbst nennt es seine Inspirationsquelle und
behauptet, dort die Geister von drei legendären Frauen - nämlich
Salome, Tullia d'Aragona und Mata Hari - beschwören und wieder
zum Leben erwecken zu können. Natürlich kommt letztlich
alles etwas anders als man denkt. Es ist wie mit den
ineinandergepackten russischen Puppen: Hinter jedem Geheimnis wartet
ein weiteres Rätsel. Nur eines ist klar: Um seiner Eifersucht
auf den Grund zu gehen, muss Oliver in "Schrödigers
Schlazimmer" eindringen. Was ihn dort erwartet, muss jeder Leser
selbst herausfinden. Es lohnt sich. Denn der Roman ist nicht nur klug
gebaut, sondern auch äußerst unterhaltsam und
hintersinnig.