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Textauszug: SCHRÖDINGERS SCHLAFZIMMER

Im oberen Stockwerk gab es neben dem Bad nur zwei Räume: das Schlafzimmer und die Bibliothek. Die andere Hälfte der Fläche wurde von der kreisrunden, nicht überdachten oberen Terrasse beansprucht, die man durch eine zweiflügelige Tür mit Glaseinsatz am Ende des Flurs betrat. Sich stilistisch treu bleibend, hatte Schrödinger zwei altmodische Liegestühle aufgetrieben, die ein wenig verloren auf den kleinen grauen Schwimmbadfliesen herumstanden. Sie waren möglicherweise original, wirkten aber recht kühl und ungemütlich. Erneut begriff Do, daß Schrödinger das Haus nicht als Befriedigungsstätte seiner inneren Bedürfnisse betrachtete, sondern als mächtige ästhetische Illusion, als Tempel für seine Religion der Unerkennbarkeit, des Zweideutigen, der Parallelität von Leben und Tod. Und wie jeder Tempel, so hatte auch dieser sein Allerheiligstes.
"Diese Tür", sagte der Zauberer, nachdem er seine Gäste abschließend durch die kleine, aber antiquarisch höchst wertvoll bestückte Bibliothek geführt hatte (unter anderem präsentierte er den beiden mit ehrfürchtigem Stolz eine Originalausgabe des Ulysses, des Romans, wie er verkündete, der die Schale des Bewußtseins mit dem Meißel der Sprache "geknackt" habe), "diese Tür ist die einzige, von der Sie mir erlauben müssen, sie Ihnen nicht zu öffnen: Sie führt in mein Schlafzimmer."
Trotz dieser Äußerung blieb er einen Moment vor der Tür stehen, offensichtlich deswegen, weil er seinen Gästen hinreichend Gelegenheit geben wollte, das hochformatige Gemälde, das rechts daneben hing, eingehender zu würdigen. Eine Frau war darauf zu sehen, die die Arme über den Kopf streckte, vor einem beinahe abstrakten Hintergrund aus blaugrauen Flächen. In der Taille eingeknickt stand sie mit geschlossenen Augen da, nur mit einem Tuch bekleidet, das sie sich um die Hüften geschlungen hatte. Die Hautflächen wirkten hell und makellos.
"Eine Lempicka-Kopie", sagte Oliver.
"Aber natürlich!", sagte Schrödinger und tippte sich mit der Handfläche einmal sanft gegen die Stirn. "Sie kennen sich ja aus! Das hätte ich mir denken können. In Sachen Malerei kann man Ihnen nichts vormachen. Sagen Sie mir, was halten Sie von der Lempicka?" Aber noch bevor Oliver antworten konnte, gestand er, daß er "Die blaue Stunde" für das Lempicka-Gemälde schlechthin hielt: die perfekten Proportionen, keine verlogene Aktarabeske, kein klebriger Verführungsschnörkel, die schläfrig-laszive Pose, die erhobenen Arme und die geöffneten Achseln, die wunderbaren kleinen Brüste, der herrliche Schwung der Taille, das locker um die Hüfte geschlungene Tuch. "Das Bild ist visionär!", befand er: "Heute latschen alle mit diesen Hüftsachen herum, die ihnen lässig über die Schamhaare rutschen. Ich finde, es hat nur einen winzigen Fehler, eine malerische Flüchtigkeit oder vielleicht sogar eine kleine handwerkliche Ungeschicklichkeit. Ich meine den rechten Nippel. Der ist irgendwie nicht gelungen. Finde ich. Der linke ist eins a: zartrosa aufgerichtet, sehr verführerisch. Aber der rechte: wie aus Gummi. Enttäuschend eindimensional. Könnte auch ein Stand-by-Lämpchen sein. Was meinen Sie, Oliver? Sie sind der Fachmann."
Oliver zuckte trocken mit den Schultern. "Vielleicht liegt es daran, daß es eine Kopie ist."
"Nein, nein", widersprach Schrödinger energisch. "Ich habe das Original gesehen. Und diese Kopie stammt von einem meiner besten Freunde, einem begnadeten Fälscher."
Oliver blieb reserviert. "Tamara de Lempicka kann sich nie entscheiden, ob ihre Bilder den Betrachter anmachen sollen oder nicht."
"Sie stimmen mir also zu? Der Nippel enttäuscht."
"Nicht nur ihre Nippel. Alle ihre Bilder schrammen hart am Kunstgewerblichen vorbei - wenn Sie mich fragen."
"Sie sind streng, Oliver. Aber Sie haben das Recht dazu. Ich habe Ihre Studien ja gesehen. Das mit den Nippeln haben Sie raus!"
"Ich tupfe da immer nur was hin."
"Das ist es ja! Ich bin ein Bewunderer Ihrer Nippel."
Oliver übte sich in Bescheidenheit: "Im Grunde sind es Kommas."
"Sie sind ein Naturtalent!", entschied der Zauberer und richtete sich an Do: "Ich hoffe, das ist nicht zu anzüglich, aber er muß brillante Vorlagen haben."
"Es ist anzüglich", sagte sie und wandte sich dem Lempicka-Gemälde zu. "Es liegt übrigens an der Farbe. Das Rosa ist zu bonbonhaft."
Schrödinger nickte. "Kein Glanz. Aus dem rechten Nippel ist irgendwie die Luft raus."
"Man darf beim Nippelmalen nicht nachdenken", erklärte Oliver. "Ich lasse sie einfach so aus dem Stift kullern wie Häkchen beim Ausfüllen eines Fragebogens."
"Mehr bedeuten sie dir nicht?" entschlüpfte es Do.
"Ich wußte ja, daß es Ihre sind!", flüsterte der Zauberer zufrieden.
"Ich hau die Sachen einfach so aufs Papier!" fuhr Oliver fort. "Wenn ich perfekt sein wollte, käme nichts dabei raus. Zuviel Perfektion ist unmenschlich."
"Oliver, das ist es!" rief Schrödinger. "Ich habe mich über den kleinen Nippelfehler immer geärgert, aber das sollte ich nicht. Zuviel Perfektion ist unmenschlich. Sie sagen es."
"Eine Nippel ist ein Nippel ...", sagte Do. "Manchmal verstehe ich diese ganze Aufregung um die weibliche Brust nicht. Könnten wir jetzt bitte über etwas anderes reden? Ich fühle mich irgendwie in der Unterzahl."
Schrödingers Gesicht trug die zartrosa Färbung des linken, des gelungenen Lempicka-Nippels. Er sagte: "Sie haben recht Do. Reden wir nicht weiter darüber und gehen wir wieder bechern. Ich habe es ernst gemeint, als ich gesagt habe, daß mein Schlafzimmer tabu ist. In meinem Schlafzimmer erarbeite ich meine Kunst. Mein Schlafzimmer ist mein Atelier! In Indien würde man sagen: mein Garbhagriha - mein Schoßhaus, mein Ort der Empfängnis. In Indien versteht man diese Dinge noch. Das Wesen der Kunst ist feminin. Das Gebären. Das Unmögliche möglich werden lassen. Und deswegen brauche ich einen Raum, der fremden Blicken vollkommen verschlossen ist. Einen Uterus. Mit meinem Schlafzimmer ist es ein wenig wie mit dieser Kiste meines Großvaters. Solange niemand an dem Ding rüttelt und den Deckel aufklappt, ist alles möglich. Die bürokratischen Gesetze der Realität haben keine Gültigkeit dort, wo niemand hinsieht, wo niemand sie einfordert! In meinem Schlafzimmer, in meinem Atelier ist alles möglich, solange niemand außer mir diese Tür öffnet. Dieses Zimmer, Do", er wurde pathetisch, "ist die Quelle meiner magischen Kräfte! Dort kann ich ins Leben rufen, was meine Fantasie mir zu sehen erlaubt. Die einzige Grenze dabei bin ich selbst. Mein Schlafzimmer ist mein Traumreich, aber nicht in so einem sentimentalistischen Wabersinn, den man üblicherweise damit verbindet. Was für ein Projekt vielmehr: die Entfaltung der Physik meines Großvaters! Ich will Ihnen nichts vormachen: Ich kann absolut nicht sagen, wie weit ich mit diesem Projekt jemals kommen werde, aber wissen Sie, Do, ich habe solange auf Bühnen herumgezaubert, daß es mich nicht mehr reizt, im Rampenlicht zu stehen und den Menschen ein X für ein U vorzumachen. Es ist einfach an der Zeit, die Grenzen zwischen Möglichem und Unmöglichem niederzureißen. Sehen Sie sich dieses Bild an, Do! Vielleicht hat Oliver recht, und es ist Kitsch. Aber was heißt das schon? Wir sehnen uns nach Liebe, nach geheimnisvoller Lust, und ich glaube daran, daß es möglich ist, das Unmögliche zu erreichen. Die erotische Ekstase, wirklich fetzige Sinnlichkeit. Jedesmal wenn ich diesen Raum betrete, betrachte ich dieses Bild und es gibt mir einen Tritt und sagt mir: Es ist möglich, der Zauber, die Liebe, du mußt nur deinen Arsch hochkriegen ..."