Reportagen
Südafrika
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Ein Reisebericht
erschienen in LITERATUREN 1/2010
Das erste Lebewesen in Südafrika, das nicht Mensch oder Vogel oder Insekt ist, sehe ich in Sterkfontein: eine Hauskatze. Graugetigert und ziemlich mager schnuppert sie auf der Suche nach Futter an einem Grasbüschel. Nach den Gewittern der vergangenen Tage ist die Steppe grün geworden. Die Erde ist rot wie gebrannter Ton und steinig, und hier und da erheben sich Büsche und kleine Bäume aus dem Gras. Es ist diese bis zum Horizont reichende Mischung aus Rot und frischem Grün, die für mich zum Urbild von Afrika wird, zu Afrika selbst, zu dem Ort, von dem die Menschheit ihren Ausgang genommen hat. Irgendwo hier – in der Nähe von Sterkfontein
Der Ort, der durch eine Reihe bedeutender Fossilienfunde berühmt geworden ist, liegt im Cradle of Humankind, Wiege der Menschheit, einem Areal nordwestlich von Johannesburg, das seit 1999 UNESCO Weltkulturerbe ist. Hier wurden Mrs. Ples gefunden, der perfekt erhaltene Schädel eines vermutlich weiblichen Australopithecus africanus, und little Foot, das bisher vollständigste Skelett eines aufrecht gehenden Hominiden, der vor etwa zwei Millionen Jahren hier gelebt hat.
Vielleicht liegt es daran, dass ich beim Gehen durch diese Landschaft das Gefühl habe, einem uralten Bewegungsgesetz zu folgen, das mit dem, was wir Spazierengehen oder Wandern nennen, nichts zu tun hat, ein archaisches, vorgedankliches Gehen, als könnte es irgendwo in mir noch den Instinkt geben, von Wasserstelle zu Wasserstelle zu ziehen. Ich bin bei mir selbst und zugleich wachsam, weil ich nichts hier kenne und etwas in mir vielleicht auf die Begegnung mit Raubtieren rechnet. Doch die einzige Bewegung in meiner Nähe ist die meines Schattens – und die des kleinen Kätzchens, das irgendwann meinen Weg kreuzt. Evolutionär gesehen ist das magere Tierchen ein naher Verwandter des Löwen. Immerhin.
Ich bin für drei Wochen in Johannesburg, und an meinem zweiten Abend treffe ich Gill, die Südafrikanerin ist und hier lebt. Der Kontakt stammt von einer Freundin aus Berlin, die Verabredung haben wir per E-mail getroffen. Als Gill mich abholt, wissen wir so gut wie nichts voneinander, bis auf die Tatsache, dass wir beide weiß sind.
Gill steuert ihren Wagen, einen BMW, durch das transparente Blau der Abenddämmerung am Stadtrand von Johannesburg. Dass sie als Fahrerin rechts sitzt, gehört zu den Dingen, an die ich mich im Laufe der kommenden drei Wochen gewöhnen werde. Sie fragt: „Was machst du hier?“
Ich sage, dass ich auf Einladung des Goethe-Instituts - „a german cultural institution“, füge ich hinzu – als writer in residence in Johannesburg bin. „Okay ...“, sagt Gill höflich. Sie vertreibt Kosmetikprodukte. Es wird eine Konferenz geben, sage ich, über den Fall der Berliner Mauer, was, wie ich finde, als historische Tatsache immerhin einigermaßen konkret klingt.
Über Berlin und die Mauer weiß Gill in etwa Bescheid. Nur dass es tatsächlich zwei vollkommen voneinander unabhängige deutsche Staaten mit zwei Regierungen und allem, was sonst noch dazu gehört, gegeben hat, war ihr nicht hundertprozentig klar. Und auch dass Berlin im Osten Deutschlands liegt und zu Mauerzeiten eine Art Teilung in der Teilung gewesen ist, hat sie nicht gewusst.
Eine gewisse Ironie bei der Geschichte ist, dass Gill in Dainfern lebt, einer Gated-Community im Norden von Johannesburg. Vollständig von einer Mauer umgeben und nur durch eine Reihe von Checkpoints mit Schranken und Wachpersonal zu erreichen, bietet Dainfern alles, was seine Bewohner außer ihren Häusern zum Leben brauchen: Schulen, Restaurants und einen Golfplatz.
Man kommt in Südafrika sehr schnell auf die sozialen Gegensätze und die ungleiche Verteilung der Güter zu sprechen. Ich habe niemanden getroffen, der in diesem Punkt naiv gewesen wäre. Gill weiß sehr genau, dass die Verhältnisse in Soweto, dem großen Township auf der anderen Seite von Johannesburg, andere sind als in Dainfern.
Nach zwei Tagen in diesem Land sehe ich es nicht als meine Aufgabe an, Ratschläge in Sachen soziale Gerechtigkeit zu erteilen. Wie sollte ich auch? Alles, was ich über Südafrika weiß oder zu wissen glaube, stammt nicht aus eigener Anschauung. Ich denke an den berühmten Satz Alexander von Humboldts: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“ Diesen Fehler möchte ich nicht begehen: Nur zu sehen, was ich bereits zu wissen glaube.
Als Gill mich nach Hause bringt, haben wir noch ein kleines südafrikanisches Problem zu lösen: Auch das Anwesen, auf dem ich untergebracht bin, liegt hinter einem hohen Zaun. Vom Eingangstor, für das ich einen Sender zum Öffnen habe, sind es bis zum Hauptgebäude noch etwa zweihundert Meter durch den Park. Die möchte Gill mich in der Dunkelheit nicht zu Fuß gehen lassen, obwohl das kein Problem für mich wäre. Die Gegend, so hat man mir mehrfach versichert, ist save.

Gill bringt mich dennoch zum Hauptgebäude, aber dort wird uns klar, dass sich der Zaun inzwischen natürlich wieder geschlossen hat. Ich, beziehungsweise der Sender, muss mit zurück. Gill wendet und lässt den Wagen noch einmal über den Kiesweg rollen. Wir verabschieden uns am Tor, das ich öffne, und dann bleibe ich allein zurück. Auf dem Weg zum Hauptgebäude kommt mir ein Mensch entgegen, dessen Haut so dunkel ist wie die afrikanische Nacht. Ich weiß ja, die Gegend ist sicher: save. Es ist der Wachmann, der auf unser Hin und Her aufmerksam geworden ist. „Hi“, sage ich, und er grüßt zurück. Mein Herzschlag ist beschleunigt.

Der Park, in dem ich wohne, liegt im Cradle of Humankind. Benji Liebmann hat ihn angelegt, nachdem er das Gelände vor zweieinhalb Jahren von einem Händler für Landwirtschaftsmaschinen gekauft hat. Die Senke ist wasserreich, und künstliche Bäche plätschern durch perfekt gepflegte Rasenflächen. Trauerweiden wölben sich über Weiher, in denen sie sich malerisch spiegeln, und im Gras picken große braune Vögel mit langen gebogenen Schnäbeln, Hadidas, wie ich irgendwann erfahre, eine Ibis-Art, nach Samenkörnern und Würmern
Benji Liebmann, der mich kurz nach meiner Ankunft besucht, sieht mit Sonnenbrille und diversen Halsketten aus wie ein Rockstar, der – obgleich ein wenig in die Jahre gekommen – noch bestens im Geschäft ist und vor Kreativität sprüht. Der Park ist eines seiner Projekte, von denen es offenbar viele gibt. In den ehemaligen Wirtschaftsgebäuden des Traktorenhandels hat er ein Studio, ein Atelier für bildende Künstler und ein kleines Konferenzzentrum eingerichtet. Niemand, den er beherbergt, braucht sich um irgend etwas zu kümmern. Das Studio, das ich bewohne, ist schlicht und geschmackvoll eingerichtet und der Kühlschrank immer gefüllt.
Jeden Morgen kommt Maria Ndawanda und räumt auf. Meistens sitze ich unter dem Bambusdach vor dem Eingang, und lese oder tippe meinen Beitrag für die Mauerkonferenz in den Laptop. Für Maria ist nicht viel zu tun, eine Kaffeetasse vom Frühstück zu spülen, ein Teller vom Abendessen. Am ersten Tag wollte ich sie davon abhalten, das Bett zu machen, aber nun lasse ich sie. Sie war erstaunt: „Oh, I can make the bed.“
Warum wehrt sich etwas in mir gegen die Rundumversorgung? Weil Maria schwarz ist? Im Hotel wäre es nicht anders, nur unsichtbar für mich. Maria dagegen erscheint jeden Morgen mit ihrem scheuen Lächeln vor der Tür meines Studios und macht sich an die Arbeit. Und am Ende fragt sie mich immer ein wenig enttäuscht, ob das alles ist? Und ich sage ja, und bedanke mich und weiß nicht, was denn nun das Problematischere an unserer Beziehung ist: Dass ich mich versorgen lasse oder dass bei mir kaum etwas zu tun ist.
Ich spreche auch mit Benji darüber, der es nicht anders kennt. Er erzählt mir von einer deutschen Fotografin, die im Studio gewohnt und es nicht ausgehalten hat. Sie hat Südafrika nicht ausgehalten, sagt er. Ihr soziales Gewissen konnte die materiellen Gegensätze nicht ertragen. Aber wem, so überlegt er, wäre damit geholfen, wenn er hier niemanden beschäftigen würde? Wenn man all die Maids, die Hausmädchen, und die Parkwächter und Tankwarte, all die kleinen Alltagsdienstleister nach Hause schicken würde?
Die Rosebank Mall liegt in einem wohlhabenden Viertel Johannesburgs, fünf Autominuten vom Goethe-Institut entfernt. Jeden Sonntag gibt es auf dem Parkdeck einen Markt mit Trödel, Kitsch und afrikanischem Kunsthandwerk. Ich schlendere an Schmuck und Schnitzereien, Masken und Musikinstrumenten, Tüchern und Trommeln vorbei. Eine Menschentraube in der Nähe der Essensstände hört einer Brassband zu. Fünfzehn junge Schwarze mit weißen Anzügen, rosa Satinhemden und schwarzen Lackschuhen tanzen und schlenkern sich mit blitzenden Posaunen und Trompeten durch I just want to say I love you.
Mit einer Frühlingsrolle lasse ich mich an einem der Stände nieder. Am Tisch sitzt bereits eine junge Weiße, eine Schweizerin, wie sich herausstellt. Sie ist Kindergärtnerin an der deutschen Schule und besucht den Markt mit ihrer schwarzen Freundin. Auf die Frage, was mich hierher geführt hat, erzähle ich von meiner Autorenresidenz im Cradle of Humankind, was jetzt auf einmal so klingt wie eine Art intellektueller Kuraufenthalt. Bequem sei das Leben im Cradle, sage ich, mit Vollpension und Maid, und kaum habe ich das gesagt, glaube ich auch schon eine aufmerkende Reaktion, ein unangenehmes Berührtsein ihrer schwarzen Freundin zu spüren, von der ich nicht weiß, ob sie Deutsch versteht oder nur das Wort Maid sie hat aufhorchen lassen.
Unsere Plauderei fließt darüber hinweg. Doch irgendwann schaltet sich die Schwarze ein, auf Englisch, woraus aber hervorgeht, dass sie unserer Unterhaltung gefolgt ist. Sofort habe ich das Bedürfnis, mich in irgendeiner Form zu entschuldigen oder wenigstens zu artikulieren, dass mir jede Form des Rassismus fremd und zuwider ist. Hinterher frage ich mich, ob ich mir die Reaktion nur eingebildet habe. Ob meine Wahrnehmung eine Spiegelung meines schlechten Gewissens war. Ich weiß es nicht, und werde es auch nicht erfahren.
Die Straßen im Rosebank-Viertel werden von Jacaranda Bäumen gesäumt, deren leuchtend violette Blüte dem Himmel Konkurrenz macht. Johannesburg ist eine baumreiche Stadt, ich habe gehört, aus einer Stammestradition heraus: Um kriegerische Grenzkonflikte zu beenden, pflanzte man Bäume auf die neu festgelegte Grenze. Manche Einwohner behaupten sogar, Johannesburg sei die baumreichste Stadt der Welt. Das wäre dann einer der Superlative.
Ein anderer könnte sein, dass Johannesburg die an Mauern reichste Stadt der Welt ist. Sämtliche Häuser liegen hinter hohen Mauern. Ich habe sogar gehört, dass der Wert eines Anwesens – in einer eigenartigen Umkehr von Ursache und Wirkung – durch die Höhe der umgebenden Mauer dokumentiert wird. Je höher die Mauer, desto wertvoller der Besitz dahinter. Die Mauer als Statussymbol: ein Gedanke, der auf die deutsche Teilung übertragen allerdings höchst skurril wäre.
Es gibt noch einen dritten Superlativ, der häufig zu hören ist: Johannesburg sei die gefährlichste Stadt der Welt. Inzwischen weiß ich aber, es ist so wie in den meisten Metropolen der Welt: Manche Bezirke gelten als sicher, andere als unsicher und wieder andere als No-go-areas – wobei die jeweilige Bewertung subjektiven Kriterien unterliegt. Das gilt auch für Soweto, das keineswegs bloß Armutsviertel ist. Manche mittelständisch geprägten Gegenden in Soweto gelten als die sichersten Johannesburgs
Um nach Soweto zu kommen, schließe ich mich einer vom Goethe-Institut organisierten Tour an. In einem kleinen Bus werden wir durch die besseren Straßenzüge – zum Beispiel die Vilakazi Street im Ortsteil Orlando, der einzigen Straße der Welt, in der zwei Nobelpreisträger wohnen: Nelson Mandela und Desmond Tutu – und auch in die sogenannten informal settlements gefahren, jene ungeplant sich ausbreitenden Hüttensiedlungen aus Wellblech und Hartfaserplatten, in die man sich als Weißer (und wohl auch als Schwarzer) nicht allein hineinwagen sollte.
Wir halten auf einem Platz aus gestampfter Erde und steigen mit unseren Kameras aus. Natürlich frage ich mich, ob man eine Gruppe von zehn weißen Touristen durch ein solches Viertel führen kann, ohne dass das ganze zum peinlichen Armutstourismus wird, zur zynischen Suche wohlhabender Europäer nach dem ultimativen postkolonialen Thrill.
Ein junger Schwarzer mit Kapuzenjacke instruiert uns, wie wir uns im Settlement zu verhalten haben. Zum Beispiel: Kein Geld für bettelnde Kinder. Denn wenn die, die betteln, Erfolg haben, dann fangen auch die, die zur Schule gehen, damit an. Ansonsten sollen wir uns unbefangen umsehen. Wir dürfen Fragen stellen und wir dürfen auch fotografieren. Die Gegend sei sicher, save, really save – wir sollen uns keine Gedanken machen.
Wir folgen ihm in die Siedlung. Regenfurchen durchziehen den unbefestigten Weg. Die Grundstücke zu beiden Seiten – sofern man von solchen sprechen kann – sind von schiefen Zäunen umgeben, hier und da sogar von Stacheldraht, so dass man sich unwillkürlich fragt, was hier eigentlich zu schützen ist. Es kann nur das Leben selbst sein.
Manche Hütten haben nur Türen, keine Fenster. Die Bleche sind rostig, die Dächer mit Autoreifen beschwert, und damit es nicht in die Ofenrohre regnet, sind Plastikeimer darüber gestülpt. Was mich allerdings wundert, ist, dass die Hütten Nummern haben, dass es also ein Ordnungssystem gibt.
Wir werden in etwas geführt, das man einen Innenhof nennen könnte. Auf einer Leine hängt Wäsche, und vor den Türen liegen schmutzige Teppiche. Wir sollen eine der Hütten betreten, doch alle zögern – nicht aus Angst, sondern tatsächlich aus Taktgefühl. Erst als unser Führer darauf besteht und betont, wie wichtig es sei, dass wir alles sehen, betreten wir die Hütte. Und vielleicht betreten wir sie ja auch, um ihm nicht zu widersprechen, weil wir, die Weißen, es nicht schon wieder besser wissen wollen als er, der Schwarze.
Dann stehen wir in sechs Quadratmetern Dämmerung einer Schwarzen gegenüber, die vierzig sein mag, vielleicht aber auch sechzig. Sie ist barfuß und begrüßt jeden persönlich mit Handschlag. Auch ich nehme ihre Hand, die weich ist und ein wenig ölig. Und ich denke an die Hygiene hier, an die Aidsrate im Land, auch daran, dass ich mich gegen Hepatitis ja habe impfen lassen – und zugleich kommt es mir wie ein Schande vor, dass ich so denke, dass ich überhaupt hier bin.
Fragen sollen wir stellen, fordert uns unser Führer auf – aber was gibt es in so einer Situation zu fragen? Wirklich fragen kann man nur von gleich zu gleich. Alles, was wir hier tun können, ist, niemanden zu beleidigen und jedem die Würde zu erhalten. Es riecht nach Brennpaste, irgendetwas siedet auf einem rostigen Kocher, und wir erfahren: Es ist Reis. Dann fragt jemand, ob das Dach dicht ist, und wir erfahren: Nein, bei Gewittern regnet es rein. Dann fällt niemandem mehr eine Frage ein und wir verlassen die Hütte wieder.
Und natürlich geben wir Geld. Wir legen Scheine in die geöffnete Hand unserer Gastgeberin. Wir geben, um unsere Schuld und unsere Scham zu mildern – auch wenn wir wissen, dass all das Teil eines Geschäfts ist.
Doch wahr ist ja auch: Die Hütten sind keine Kulissen und die bettelnden Kinder, denen wir begegnen, keine Schauspieler. Was haben wir also gesehen? Die Wahrheit? Realität in inszenierter Form? Oder vielleicht überhaupt nichts?
Im Cradle of Humankind zu wohnen bedeutet, dass ich von Johannesburg aus fünfunddreißig Kilometer nach Norden fahren muss, um nach Hause zu kommen, was mit GPS auch in der Dunkelheit und bei dem Regen, der gerade einsetzt, eigentlich kein Problem sein sollte. Allerdings hat Benjis Künstler-Cradle-Projekt keine GPS-taugliche Adresse. Ich dachte, das Problem durch die Wahl der Navigationsoption „Standort als Heimatort festlegen“ gelöst zu haben, erfahre auf dem Parkplatz des Goethe-Instituts aber, dass ich mich in diesem Punkt geirrt habe. Als ich das Gerät anschalte und die Option „Navigieren zu Heimatort“ anwähle, heißt es mit der üblichen Freundlichkeit digitalisierter Stimmen: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“
Was für ein Satz! Ist das so? Dass ich als deutscher Schriftsteller auf dem Parkplatz des Goethe-Instituts in Johannesburg mein Ziel erreicht habe? Ich ignoriere die existentiell-metaphorische Bedeutung der Bemerkung fürs erste und denke über meine Lage nach: Es könnte schwierig werden, ohne Adresse und jede Ortskenntnis meine fünfunddreißig Kilometer entfernte Unterkunft wiederzufinden. Ich habe zwar einen Stadtplan, aber erstens ist auf diesem der Cradle nicht mehr verzeichnet und zweitens bin ich davor gewarnt worden, in mir unbekannten Vierteln anzuhalten, um mich in dem engmaschigen Straßennetz des Stadtplans zurechtzufinden.
Der Regen wird stärker. Irgendwann glaube ich, mich an einen Straßennamen zu erinnern: Beyers-Naudé-Drive, die sechsspurige Ausfallstraße hinaus zum Cradle. Der Name wird vom Navigationsgerät akzeptiert, und also fahre ich los. Ab und an stehen Schwarze an den Kreuzungen, trotz des Regens. Ich weiß nicht, ob das, was ich tue, vernünftig ist, oder mich in und durch Gegenden führt, die ich meiden sollte.
Und dann ist es auf einmal da: Das Gefühl des Verlorenseins in der Fremde, des Ausgeliefertseins ohne Sicherheitsleine. Ich verriegele die Türen. Unmöglich, in der Dunkelheit die Strecke wiederzuerkennen, die ich tagsüber gefahren bin. Die substanzlose Stimme des Navigationsgeräts ist die einzige Verbindung zur Zivilisation, wie ich sie kenne. Alles andere ist Afrika: die schwarzen Jugendlichen an der Straße, die Autos mit blendenden, viel zu hoch eingestellten Scheinwerfern, der Linksverkehr, die Pfützen und Mauern und der Regen, der auf einmal als geschlossene Masse fällt.
Der Beyers-Naudé-Drive ist wirklich sechsspurig. Und als ich die von Pretoria nach Bloemfontein führende N14 überquere weiß ich, dass ich mich in die richtige Richtung bewege. Kurz darauf das Schild: Cradle of Humankind. Ich habe das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein.
Mit einer Gruppe von Wissenschaftlern der Witwatersrand Universität Johannesburg und der Universität Pretoria gehe ich durch den Cradle of Humankind. Einer von ihnen, Lee Berger, ist einer der weltweit führenden Paläoanthropologen. Auf einer Anhöhe bückt er sich plötzlich und hebt ein weißes, splitterartiges Steinchen hoch: eine abgebrochene Messerspitze, die etwa siebzigtausend Jahre alt ist, wie er uns erklärt. Er reicht das Steinchen herum, und wir wundern uns über seine Schärfe. Dann macht Lee eine verblüffende Rechnung auf: Wenn unsere Hominiden-Vorfahren nur einmal pro Jahr und Hektar eines ihrer Werkzeuge verloren haben, dann liegen im Cradle pro Hektar zwei Millionen Werkzeuge herum. „We're literally walking on artefacts“, sagt er, und alle schauen unwillkürlich zu Boden.
Mit Skeletten ist es anders. Skelette gehören zu den seltensten Objekten der Welt, weil die Natur nichts verkommen lässt. Little Foot und Mrs. Ples sind dem Schicksal, gefressen und biologisch recycelt zu werden, nur entgangen, weil sie durch eine Erdspalte in eine der Sterkfontein-Höhlen gefallen sind. Kein schöner Tod, aber immerhin einer für die Wissenschaft. Weitgeschwungene Hügel bis zum Horizont und niedrige Tafelberge formen die Landschaft des Cradle of Humankind. Sie haben hier gelebt, denke ich, hier wo ich stehe.
Ich habe in Südafrika nicht alles gefunden, wonach ich gesucht habe. Oder was ich, ohne die Zeit gehabt zu haben, danach zu suchen, doch als Vorstellung im Kopf hatte, was fester Bestandteil meines Afrikabildes war: zum Beispiel Löwen oder Elefanten. Oder bestimmte Konstellationen des anderen Sternenhimmels: das Kreuz des Südens oder die magellanschen Wolken. Und auch nicht manche Kehrseite des Zusammenlebens von Schwarz und Weiß und Arm und Reich wie Überfälle und offenen Rassismus. Statt dessen habe ich das Gefühl, etwas gefunden zu haben, wonach ich gar nicht gesucht habe: Ein Stück von mir selbst.
Die Sonne brennt hoch am Himmel, und ich weiß, dass dort, wo sie steht, nicht Süden ist, sondern Norden. Wir stehen am Eingang einer der Höhlen im Cradle of Humankind und sprechen über das Leben vor siebzigtausend Jahren. Lee weiß Erstaunliches darüber zu berichten und immer wieder sagt er: „Believe it or not.“
Das Erstaunlichste von allem aber sagt er zum Schluss: dass nämlich diese Wesen, die hier vor siebzigtausend Jahren gelebt haben, keine grunzenden Affen oder Halbmenschen gewesen sind. „Nein“, sagt er, „glaubt es, oder glaubt es nicht, aber das waren wir. Niemand anders als wir!“
Er sieht uns an. Wir sind eine gemischte Gruppe aus Schwarzen und Weißen. Für die Evolution ist dieser Unterschied bedeutungslos. Afrika ist die Wiege der Menschheit. Hier kommen wir her.