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Spannung auf Topniveau
Ulf Heese
Mit dem Thriller "Die letzte Vorstellung", den Matti Geschonneck kurz darauf unter dem Titel "Mord am Meer" verfilmte, überraschte Ulrich Woelk 2004 seine Fans. Nach langer Pause steigt der Romancier mit seinem jüngsten Buch wieder in das Genre ein. Erneut lässt er Anton Glauberg als Polizisten agieren. Der Beamte aus Husum durchleuchtet ein bestialisches Verbrechen. Das Opfer ist eine Hamburger Prostituierte. Der Täter sägte ihr die Schädeldecke auf, schnitt eine tennisballgroße Menge Gehirnmasse heraus und füllte den Hohlraum mit einer Plastikhülle. In die Folie steckte er einen Zettel, auf dem der Satz stand: "Die Wahrheit wird euch frei machen." Anschließend drapierte er den Leichnam symbolträchtig vor dem Versammlungshaus einer christlichen Gemeinschaft nahe dem nordfriesischen Drelsdorf. Der Kommissar findet rasch heraus, dass es sich bei der Formulierung um den Teil eines Bibelzitates aus dem Johannesevangelium handelt. Daher tippt er auf einen Ritualmord. In den Fokus seiner Ermittlungen rücken logischerweise Repräsentanten jener Freikirche aus Schleswig-Holstein, vor der die Tote deponiert wurde. Doch der Verdacht gegen die Heilsverkünder, die Naivität vorspiegeln, erhärtet sich nicht.
Geschickt setzt Woelk den Leser von einer falschen Spur auf die nächste. Nachdem man in jede seiner Fallen getappt ist, zeigt sich, dass ein fanatischer Individualist das Verbrechen verübte, der im Verlauf des Geschehens nicht annähernd wie ein Verdächtiger erschien. Glauberg tut sich indes schwer, den Täter zu verhaften, weil er in einer tiefen persönlichen Krise steckt. Sein Sohn dealt mit Rauschgift. Seine Frau, von der er getrennt wohnt, döst nach einem Suizidversuch in einer psychiatrischen Klinik vor sich hin. Ähnlich wie Henning Mankells Held Kurt Wallander scheitert er privat. Beruflich läuft es bei ihm halbwegs normal, aber eigentlich funktioniert er nur wie eine Maschine. "Glauberg hing am Leben, obwohl er wirklich nicht sagen konnte, wo eigentlich der Gewinn dabei lag", heißt es über ihn. Dieses stupide Daseinsgefühl, das in den westlichen Industriegesellschaften rasant wächst, arbeitet Woelk mit psychologischer Raffinesse heraus.
Dabei stößt er zum Hauptthema vor, das ihn umtreibt: Vordergründig dreht sich seine Krimi zwar um die Gräueltat an einem Callgirl, doch im Kern analysiert der Autor haarscharf die Befindlichkeit des modernen Menschen, der durch den Rationalismus sein inneres Gleichgewicht einzubüßen droht. "Gott ist tot", verkündet ein in seiner Story auftauchender Neurologe. Diese These stammt vom Philosophen Friedrich Nietzsche und verursachte eine fundamentale Ernüchterung, die auf die Naturwissenschaften durchschlug. Laut Woelk, der sich vor seiner literarischen Karriere als Astronom mit der Entwicklung von Sternen befasste, vermag die Forschung dem Menschen heute nichts zu bieten, "außer der Information, eine Ansammlung von Molekülen zu sein". Diese Gewissheit erzeugt bei vielen eine Unzufriedenheit, die dazu führt, dass sie unter anderem in Religionen nach Alternativen suchen. Woelk ergreift in seinem Roman nirgends Partei, sehr neutral wägt er Argumente des Materialismus und der Metaphysik gegeneinander ab. Immer wieder wartet er dabei mit intelligenten Thesen auf. Ein Beispiel: "Vielleicht würde die Wissenschaft immer ein Gedankengebäude für wenige bleiben: Mit dem Glauben konnte man leben - mit der Wissenschaft konnte man sich nur abfinden."
In keinem Kapitel seines Pageturners bedient Woelk billige Muster. Souverän bewältigt er einen ebenso facettenreichen wie brisanten Stoff. Stilistisch punktet er durch lakonische Formulierungen und elegante Wortwahl. Trotz des hohen inhaltlichen Niveaus entfernt er sich sprachlich nie von der Kurzweil. Mit seiner klugen Geschichte hebt er den deutschen Spannungsroman auf Topniveau.